Bild zeigt Menschen in der Wiener Innenstadt.
Reuters/Leonhard Foeger
Blick auf Herbst

Forscher warnen vor gleichen Fehlern

Vor der Wiederholung von Fehlern im Umgang mit der Covid-19-Pandemie im vergangenen Sommer und Herbst warnen Fachleute in einer Prognose im Fachjournal „The Lancet Regional Health Europe“. Wenn auf Eindämmungsmaßnahmen verzichtet werde, die Impfquoten nicht erhöht würden und es kein europaweit abgestimmtes Vorgehen gebe, könnten ab Herbst wieder größere Wellen auftreten.

34 führende Expertinnen und Experten versuchen sich in dem Fachartikel an einem mittelfristigen Ausblick. Der Blick der Analyse liegt auf den Zeiträumen Sommer 2021, dem kommenden Herbst und Winter 2021 bis 2022 und auf der Perspektive für die kommenden drei bis fünf Jahre. Die zentrale Frage: Wie wird sich die Pandemie entwickeln?

Die Basis bilden Überlegungen zur Immunität durch den Impfschutz, zu weiteren Virusmutationen wie besorgniserregenden Varianten oder gar Immunfluchtvarianten sowie zur Einstellung und Bereitschaft in Europas Bevölkerung, nicht pharmazeutische Maßnahmen weiter mitzutragen.

BIld zeigt Menschen vor dem Austria Center in Wien.
APA/Helmut Fohringer
Wie sich die Pandemie weiterentwickelt, hängt laut Experten von viele Faktoren ab – die wichtigste ist und bleibe aber wohl die Impfung

Experte: Ohne Impfung kein Ende der Pandemie in Sicht

Für den Wiener Komplexitätsforscher Peter Klimek (Complexity Science Hub Vienna) ist klar, dass mit Impfungen bis zum Erreichen einer mittlerweile vielfach als unrealistisch eingestuften Herdenimmunität alleine ein Ende der Pandemie nicht in Sicht ist.

Es brauche aller Voraussicht nach auch weiter Maßnahmen zur Eindämmung, wie gute Risikokommunikation und das Testen, Tracen und Isolieren (TTI). Man gehe allerdings nicht davon aus, „dass wir jeden Winter Lockdowns brauchen werden“, betonte Klimek im Gespräch mit der APA.

„Werden es nicht mehr schaffen, das Virus auszulöschen“

Die Pandemie werde uns jedoch weiter vor Herausforderungen stellen, da einer der einhelligen Punkte unter den an der Arbeit beteiligten Experten war, „dass wir es nicht mehr schaffen werden, das Virus auszulöschen“.

Vertretung aus Österreich

Aus Österreich finden sich mit Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) und der Medizinischen Universität Wien, Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS), der Politikwissenschafterin Barbara Prainsack von der Universität Wien sowie der Epidemiologin Eva Schernhammer von der MedUni Wien und der Harvard Medical School (USA) namhafte Vertreter unter den Autoren.

Daher brauche es möglichst niedrige Fallzahlen und europaweit „eine klare, evidenzbasierte und kontextrelevante Strategie sowie konzertierte Anstrengungen und Maßnahmen“, so die Experten.

Impfpflicht umstritten

Die Impfung spielt die zentrale Rolle in der Überlegung der Wissenschaftler. Nur so gelinge es, die Risikogruppen und das Gesundheitssystem zu schützen. Über eine allgemeine Impfpflicht werde in Europa künftig sicher diskutiert, wenn die laut Klimek zu erwartende Welle in nicht geimpften Bevölkerungsgruppen Richtung Herbst ansteigt.

Die Wirksamkeit einer Impfpflicht auch über bestimmte Berufsgruppen hinaus bleibe aber „umstritten, da die Durchimpfung von einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Faktoren abhängt“, heißt es in dem Papier.

Unterschiedliche Behandlung je nach Impfstatus?

Bei der Diskussion über die laut den Experten voraussichtlich notwendige Wiedereinführung und Aufrechterhaltung von Eindämmungsmaßnahmen, müsse auch darüber nachgedacht werden, wie unterschiedlich Geimpfte und Nichtgeimpfte behandelt werden.

Impfstoffe reduzieren „wahrscheinlich auch dann die Übertragbarkeit, wenn sich Menschen trotz voriger Impfung anstecken. Vor allem scheinen sie schwere Symptome und Krankenhausaufenthalte zu verhindern, wobei eine relative Risikoreduktion von etwa 70 bis 95 Prozent erreicht wird“, schreiben die Experten.

„Pandemie-Ping-Pong“: Kritik an Politik

Gehen die Fallzahlen – wie schon aktuell beobachtet – weiter nach oben, werde es die Aufgabe der Regierungen sein, die Fehler des vergangenen Herbstes und Winters nicht zu wiederholen. Die Erfahrung lehre, „dass die Wiedereinführung der notwendigen Gesundheitsmaßnahmen zu spät kommen könnte, um eine weitere Welle im Herbst erfolgreich zu verhindern“, warnen die Wissenschaftler.

Für Klimek gilt „leider nach wie vor, dass wir auf europäischer Ebene relativ unkoordiniert vorgehen. Da haben wir die Lehren nicht gezogen“. Komme hier kein Umdenken, „spielen wir weltweites Pandemie-Ping-Pong mit immer neuen Ausbrüchen und neuen Varianten“, so Czypionka in einer Aussendung des IHS.

Klimek warnt vor einer „Täglich grüßt das Murmeltier“-Situation mit der Quasi-Absage der Pandemie im Sommer bei gleichzeitiger Aufbereitung des Nährbodens für künftige Wellen. Ob hier dazugelernt wurde, werde „der ultimative Test in den kommenden Monaten“ zeigen.

Appell: Gesundheitsinfrastruktur erhalten

Sehr interessant werde, wie langfristig eine durch Impfung oder durchgemachte Krankheit aufgebaute Immunität auch angesichts neuer Varianten bestehen bleibt. Unter anderem deshalb sollten mühsam aufgebaute Infrastrukturen beibehalten werden.

„Diese Infrastruktur umfasst grundlegende Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens, gut geschultes Personal in ausreichender Zahl, gut funktionierende TTI-Systeme, eine weit verbreitete Sequenzierung der Virusvarianten und gut etablierte molekulare Überwachungsmechanismen“, so die Forscher.

Verweis auf Klimakrise

Im letzten Teil der Analyse findet sich zudem ein Verweis auf die Klimakrise. So heißt es dort: Die Zusammenhänge zwischen Tier-, Mensch- und Umweltgesundheit sind komplex und erfordern systemisches Denken. Demnach müsse diesen Verbindungen mehr Aufmerksamkeit zukommen. Nur so könne das Bewusstsein für menschliches Handeln in dieser Größendimension geschärft werden.

Und weiter: „Je stärker der Klimawandel wird, umso häufiger werden auch eine Reihe schwerwiegender Gesundheitsprobleme auftreten.“ Daher brauche es einen allumfassenden Denkansatz mit einer globalen Gesundheitsperspektive, so die Autoren und Autorinnen.