Ultima Vez/Wim Vandekeybus (BE) mit TRACES
Danny Willems
„Traces“

Wenn die Natur zurücktanzt

Mit der österreichischen Erstaufführung von „Traces“ hat der belgische Starchoreograf Wim Vandekeybus am Mittwochabend die zentrale Frage von ImPulsTanz 2021 vertieft: Welche Narben fügen Natur und Kultur einander zu? Seine Spurensuche führte Vandekeybus in die Wälder Rumäniens, Heimat vieler Bären, Symbol und Inspiration dieser intensiven Performance. An der Grenzlinie zwischen Wald und Zivilisation baut Vandekeybus eine eindrucksvolle Welt der Körper und der Bilder auf.

„Wenn wir uns einen Weg durch den Wald ebnen, wird der Wald unser“, zitiert das Programmheft den 58-jährigen Tänzer und Choreografen Vandekeybus. Doch die Natur schlägt zurück, und so erzählt „Traces“ vom Konflikt der Kräfte, der sich weiter zuspitzt.

Über den Bühnenboden des Volkstheaters verläuft eine Straße, dahinter zeichnet sich dichter Wald ab. Autoreifen stapeln sich im Niemandsland zwischen Bäumen und Asphalt. Aus dem düsteren Dickicht stürzt eine junge Frau, brüllend, scheinbar verrückt geworden. Während ihres wilden Veitstanzes schwingen (Auto-)Scheinwerfer in unglaublicher Rasanz quer über die Bühne, sie treffen die junge Frau, die regungslos liegen bleibt. Straßenarbeiter schleifen den leblosen Körper an die Rampe und stecken ihn in eine Plastikhülle. Die Zivilisation fordert eben Opfer. Die Straße ist der Kampfplatz, auf dem Mensch und Tier ihren Raum verteidigen.

Ultima Vez/Wim Vandekeybus (BE) mit TRACES
Danny Willems
Die Natur holt sich – verkörpert von der den Tänzerinnen und Tänzern der Compagnie Ultima Vez – ihren Raum zurück

Auf der Suche nach der letzten Wildnis

Im Kostüm eines Braunbären tapst ein Tänzer über die Bühne, neugierig, was sich unter dem Plastiksack verbirgt. Er zieht den Frauenkörper heraus, beschnüffelt ihn, schleift ihn auf die Straße. Hier ist sein Zuhause, hier ist das Reich der Wildtiere. Eine Tänzerin streckt ihre Arme ins Licht, stolz hält sie ihr Geweih in den Himmel, bis Arbeiter kommen und die Krone mit weißer Farbe anstreichen. Hier wird alles markiert, die Fahrbahnen und das Wild.

Veranstaltungshinweis

„Traces“ wird im Rahmen des ImPulsTanz-Festivals noch am 4.8. und 5.8., jeweils um 21.00 Uhr, im Volkstheater aufgeführt.

Vandekeybus hat sich auf seiner Spurensuche mit den Karpaten als letzter noch existierender Wildnis Europas beschäftigt. Trotz entsprechender Gesetze werden Abholzungen und Schlägerungen weiter fortgesetzt und unter Schutz stehende Wildtiere gejagt. Doch die Hirsche wehren sich. Hochdynamisch kämpfen sie um ihren Lebensraum, der immer weniger wird.

Die zehn Performer der Compagnie Ultima Vez entwickeln zum kraftvollen Soundscape einen wilden Tanz der Hirsche. Es zählt zu den schönsten und stärksten Szenen des Abends, wenn sie sich in stolzer Eleganz den asphaltierten Boden zurückerobern. Doch das Bild ist nur von kurzer Dauer, eine Illusion, falsche Naturromantik. Autoreifen rollen zu mächtigem Dröhnen über die Bühne, die Bedrohung schreitet weiter voran.

Am Beispiel des Tanzbären

Unversöhnliche Konflikte stehen im Fokus von Vandekeybus’ Choreografien. Neben der Mensch-Tier-Beziehung folgt er in „Traces“ auch den Spuren der Roma, deren nomadische Lebensweise sie an den Rand unserer Gesellschaft drängt. Sie wandern stets weiter, doch wo sie ihre Zelte und Wohnwagen aufschlagen, sind sie zumeist unerwünscht. Inspiriert vom Bildband „Gypsies“ (1975) des tschechisch-französischen Fotografen Josef Koudelka folgt Vandekeybus Schauplätzen, aber auch der Schaulust, die mit der Bärendressur bedient wird.

Person in einem Bärenkostüm hält eine Geigerin fest
Danny Willems
Die Begegnung von Roma und Bären nimmt sich nur auf den ersten Blick harmonisch aus

In tragikomischen Szenen tanzt der Braunbär zum Geigenspiel einer Romni. In verspielten Szenen eignen sich die Tänzer Wald und Straße an, bauen sich aus Reifen ein Haus, verkleiden sich mit Fundstücken und tanzen mit dem Bären, dem Symbol von Sensibilität und Stärke. Vandekeybus entlarvt die Bilder eines vermeintlich friedlichen Zusammenlebens. Denn der Tanzbär ist alles andere als ein lebendig gewordenes Stofftier, das in Kinderzimmern für Trost sorgt. Er ist domestiziert, durch Folter und Quälereien zum Schwächeren gemacht worden. Das Raubtier ist gezähmt, der Bär seiner Würde beraubt, an einem Nasenring wird er herumgeführt.

Wer ist die Bestie?

Doch die Natur wehrt sich. Die Tiere verteidigen ihr Habitat. Als der Vorarbeiter mit seinen Männern eine neue Straße baut, kommt es zur Konfrontation. Luchse, Wölfe und Bären widersetzen sich den Menschen. Zu Marc Ribots Gitarrensound entwickeln die Tänzer einen rasanten Rhythmus, der der animalischen Kraft des Urwalds folgt.

Ihre Bewegungssprache ist voll von riskanten, grenzüberschreitenden Elementen, die die Linien zwischen Mensch und Tier verschwinden lassen. Hier sind Bestien am Werk, das Ergebnis ist völlige Zerstörung. „Traces“ zeigt wieder eine neue Facette von Vandekeybus’ einzigartigem, impulsivem Stil. Langer, begeisterter Applaus für diese kraft- und eindrucksvolle Performance war ihm und Ultima Vez im Volkstheater gewiss.