Gebäude des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg
Reuters/Vincent Kessler
Wegweisend?

EGMR stoppt Abschiebung nach Afghanistan

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit einer einstweiligen Verfügung die geplante Abschiebung eines abgelehnten Asylwerbers nach Afghanistan gestoppt. In der Begründung wird auf die schlechte Sicherheitslage in Afghanistan verwiesen. Im Innenministerium spricht man von keinem „pauschalen Verbot“. In Afghanistan steigt unterdessen die Zahl der zivilen Opfer.

Von dem EGMR-Entscheid schrieb am Dienstag Lukas Gahleitner-Gertz von der NGO Asylkoordination Österreich auf Twitter. Im Innenministerium bestätigte man das auf APA-Anfrage. Der Spruch betreffe aber nur einen Einzelfall und sei „kein pauschales Verbot für uns“. Die Deserteurs- und Flüchtlingsberatung, die den Antrag beim EGMR eingebracht hatte, schrieb ebenfalls, dass die Entscheidung vorerst nur für den konkreten Fall gelte.

Das Besondere sei allerdings, dass die Gründe, die der EGMR anführt, nicht auf den konkreten Fall bezogen, sondern rein allgemein seien, meint man dort. Der Gerichtshof weise zudem darauf hin, dass viele andere EU-Länder aufgrund der bedenklichen Lage im Land bereits Abschiebungen nach Afghanistan gestoppt hätten. Auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex, die die Abwicklung solcher Flüge unterstützt, stoppte im Juli die Organisation der Abschiebeflüge, wie der „Standard“ schreibt.

EGMR stoppt Abschiebung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stoppte mit einer einstweiligen Verfügung die geplante Abschiebung eines abgelehnten Asylwerbers nach Afghanistan.

Abschiebung bis Ende August ausgesetzt

Konkret geht es um Regel 39 des EGMR, die einstweilige Verfügungen gegen geplante Abschiebungen ermöglicht – allerdings nur in Ausnahmefällen, etwa, um Folter oder Lebensgefahr für den Betroffenen zu verhindern. Der EGMR setzte die Abschiebung vorerst bis 31. August aus, wie aus dem Schreiben hervorgeht, dass die Deserteursberatung auf ihrer Websit veröffentlichte.

Abgelehnte Asylbewerber steigen in ein Flugzeug
APA/dpa/Daniel Maurer
Über Abschiebungen aus Afghanistan, hier ein Archivfoto aus Baden-Württemberg, wird seit dem US-Abzug aus dem Land deutlich öfter diskutiert

Der Deserteursverein schreibt auf seiner Website, dass von den Behörden bisher argumentiert wurde, dass Abgeschobene in Mazar-i-Sharif oder Herat Zuflucht finden könnten. Nun habe sich aber die „Sicherheitslage seit Vormarsch der Taliban (…) jedenfalls geändert“, heißt es.

Ministerium: Alle Fälle werden evaluiert

Im Innenministerium betonte ein Sprecher, dass alle Fälle vor der Abschiebung evaluiert würden, so auch dieser. In diesem Einzelfall fließe nun der EGMR-Spruch ein, es gehe um einen Aufschub bis Ende August. Die einstweilige Verfügung stelle kein „pauschales Verbot“ von Abschiebungen nach Afghanistan dar.

Das Thema Abschiebungen nach Afghanistan hatte zuletzt für politischen Zündstoff in Österreich gesorgt, auch innerhalb der Koalition von ÖVP und Grünen. Verschärft hatte sich die Diskussion nach der Tötung einer 13-Jährigen mutmaßlich durch afghanische Asylwerber. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) kündigte im Zuge dessen verstärkte Abschiebungen nach Afghanistan an. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) sagte, er wolle stattdessen auf die bereits bestehenden Instrumente zurückgreifen. So sei etwa ein rascheres Vorgehen bei Abschiebungen gefragt.

Debatte auch in Deutschland

Auch in Deutschland ist die derzeitige Situation in Afghanistan Thema. Die Organisation Pro Asyl warf der deutschen Bundesregierung vor, ihre Pläne für Abschiebungen nach Afghanistan trotz des Vorrückens der Taliban voranzutreiben. Sie befürchtete, dass ein Abschiebeflug – über Wien – unmittelbar bevorstehe. Ein Sprecher des Innenministeriums sagte auf Anfrage: „Planungen für einen solchen Flug bestehen nicht.“

Der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt plädierte in einem Interview der Mediengruppe „Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung“ und der Münchner „Abendzeitung“ (Mittwoch-Ausgabe) für weitere Abschiebungen von „Gefährdern und Gewaltverbrechern“ nach Kabul, weil Straftäter ihr Bleiberecht verwirkt hätten. Dagegen sagte der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck, unter den aktuellen Umständen könne man keine Menschen dorthin abschieben. „Straftäter müssten dann hier in Deutschland ihre gerechte Strafe absitzen“, betonte Habeck.

Ein ursprünglich für Dienstagabend geplanter Abschiebeflug nach Afghanistan ist am Dienstag von deutscher Seite kurzfristig abgesagt worden. Zu den Gründen für die Entscheidung gab es zunächst keine offiziellen Angaben. Mehrere afghanische Männer waren bereits nach München gebracht worden, von wo sie nach Kabul hätten fliegen sollen.

UNO: Sehr viele zivile Opfer in Afghanistan

In Afghanistan sind unterdessen immer mehr zivile Opfer zu beklagen. Bei den andauernden Gefechten in der Provinzhauptstadt Lashkargah im Süden Afghanistans seien binnen 24 Stunden mindestens 40 Zivilisten getötet und 118 verletzt worden, teilte die UNO-Mission in Afghanistan am Dienstag auf Twitter mit.

Die Hauptstadt Kabul wurde Dienstagabend von einer heftigen Explosion erschüttert, der mehrere kleine folgten. Von einem Sprecher des Innenministeriums hieß es, eine Autobombe sei im Stadtteil Scherpur im Zentrum der Stadt gezündet worden. Nach Angaben aus Sicherheitskreisen ereignete sich die Explosion nahe dem Haus von Verteidigungsminister Bismillah Mohammadi, der unverletzt blieb, mindestens 13 Personen wurden aber getötet, mindestens 20 verletzt.

Im Anschluss seien mehrere Terroristen in Wohnhäuser vorgedrungen und hätten sich Feuergefechte mit Sicherheitskräften geliefert, sagte der Sprecher weiter. Spezialkräfte der Polizei führten Operationen an Ort und Stelle durch. Bisher seien zwei Terroristen getötet und 30 gefangen genommene Zivilisten gerettet worden. Es gab keine Angaben dazu, um wessen Wohnhäuser es sich handelte. Bisher bekannte sich niemand zu dem Angriff. Die USA sagten, die Anschläge würden die „Handschrift“ der Taliban tragen.

Städte besonders umkämpft

Seit Beginn des Abzugs der US- und NATO-Truppen haben die Taliban bedeutende Gebietsgewinne vor allem im ländlichen Raum erzielt. Aktuell verlagern sich die Gefechte zunehmend in die Städte. Kämpfe gibt es etwa in Herat im Westen sowie in Kandahar und Lashkargah im Süden.

Am Dienstag griffen die Taliban dem Provinzrat Ataullah Afghan zufolge in Lashkargah im Zentrum in der Nähe des Gouverneursitzes und der Polizeizentrale an. Die Regierung hält nur mehr zwei der zehn Polizeibezirke der Stadt. Sollte Kabul keine Verstärkung schicken, drohe die Hauptstadt der Provinz Helmand an die Islamisten zu fallen, sagte Afghan. Die Verteidiger würden seit elf Tagen praktisch ohne Schlaf kämpfen. Ihr größtes Problem sei, dass sich Taliban-Kämpfer in Wohnhäusern verschanzt hielten.

Auch Dutzende Tote in Herat

Berichte über Dutzende Tote und Hunderte Verletzte in den vergangenen zehn Tagen gab es auch aus den Städten Herat und Kandahar. In Herat schlugen am Dienstag dem lokalen TV-Sender ToloNews zufolge zwei Raketen in der Nähe der Flughafenrollbahn ein. Ein Flugzeug, das gerade hätte landen sollen, sei nach Kabul zurückgekehrt.

In einer Ansprache vor beiden Kammern des Parlaments hatte der afghanische Präsident Ashraf Ghani am Montag die „plötzliche Entscheidung“ der USA und der NATO-Truppen zum Abzug für die Verschlechterung der Sicherheitslage verantwortlich gemacht. Er versprach, binnen sechs Monaten für Stabilität im Land zu sorgen.