Der in Polen lebende belarussische Exilpolitiker Pawel Latuschko hatte zuvor getwittert, Timanowskaja werde noch am Mittwoch in Warschau ankommen. Auch der Ehemann Timanowskajas, Arseni Sdanewitsch, soll am Mittwoch nach Warschau fliegen, wie eine Organisation der belarussischen Opposition in Polen mitteilte. Auch er habe ein humanitäres Visum für Polen erhalten, bestätigte ein Regierungssprecher am Nachmittag.
Ursprünglich hatte es geheißen, dass Timanowskaja mit der polnischen Airline LOT aus Tokio nach Warschau fliegen werde. Konsulatsmitarbeiter hätten ihre Flugroute aber aufgrund von Sicherheitsbedenken geändert, hieß es in der Früh aus Kreisen der belarussischen Gemeinschaft.

Während ihres Zwischenaufenthaltes in Österreich wurde die Sportlerin von österreichischen Polizeibeamten geschützt. „Für uns ist oberste Priorität, dass Kristina Timanowskaja jetzt in Sicherheit ist. Das ist das Entscheidende“, sagte Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) in einer der APA übermittelten Stellungnahme.
Österreich bereit für Asyl
Ob sie letztlich in Polen, Österreich oder anderswo Schutz finden werde, „wird sich weisen und hängt auch von ihr ab“, so der Minister weiter. Österreich stehe jedenfalls bereit, ihr zu helfen, wiederholte er. „Sollte ein Asylantrag gestellt werden, so wird dieser im Rahmen der bestehenden Gesetzgebung behandelt“, so das Innenministerium.
In Wien-Schwechat wurde Timanowskaja unter anderem von Staatssekretär Magnus Brunner (ÖVP) in Empfang genommen. Das wichtigste sei, dass sich die Athletin sicher fühle, so Brunner. Es gehe ihr den Umständen entsprechend gut. Die Sportlerin wolle sich in Wien nicht vor der Presse äußern. Während ihres Zwischenaufenthaltes in Österreich wurde die Sportlerin von österreichischen Polizeibeamten geschützt.
Ursprünglich hatte es in Berichten geheißen, dass Timanowskaja in Deutschland oder Österreich Asyl beantragen wollte. Am Dienstag erklärt Schallenberg gegenüber der „Presse“, dass Österreich sehr wohl bereit gewesen wäre, Timanowskaja aufzunehmen. Doch sie habe sich nicht gemeldet und sich dann für Polen entschieden. „Wir haben sie erwartet. Es liegt an ihr, wofür sie sich entscheidet“, so Schallenberg.
„Sicherheitsbedenken“ in Polen
Von polnischer Seite wurde Mittwochvormittag bestätigt, dass das eigentliche Ziel Timanowskajas Warschau sei. Dass die Flugroutenänderung über Wien bekanntgeworden sei, rief in Polen „Sicherheitsbedenken“ hervor, wie Reuters unter Berufung auf eine Quelle in der polnischen Regierung mitteilte.
Die Nacht zum Montag hatte Timanowskaja unter Schutzvorkehrungen in einem Flughafenhotel in Tokio verbracht, danach gewährte ihr die polnische Botschaft Schutz. Am Mittwoch wurde sie mit Polizeieskorte zum Flughafen Tokio gebracht. Mit Gesichtsmaske und Sonnenbrille bekleidet verschwand sie in Begleitung mehrerer Sicherheitsbeamter in einem Aufzug zu einem VIP-Bereich. Sie äußerte sich nicht vor den wartenden Reportern.
Man müsse „besonders vorsichtig“ sein, spielte ein Insider auf die Entführung eines Ryanair-Fluges Ende Mai an. Damals hatte Belarus das Linienflugzeug auf dem Weg von Athen nach Vilnius umgeleitet und zur Landung in der belarussischen Hauptstadt Minsk gezwungen. An Bord befand sich mit Roman Protassewitsch einer der prominentesten oppositionellen Blogger des Landes, der sofort nach der Landung festgenommen wurde.
Polen will Sportlerkarriere unterstützen
Warschau werde alles tun, „was notwendig ist, um ihr zu helfen, ihre Sportkarriere fortzusetzen“, erklärte Polens Vizeaußenminister Marcin Przydacz. Timanowskajas Ehemann Arseni Sdanewitsch war nach eigenen Angaben aus dem autoritär regierten Belarus geflüchtet und hält sich zurzeit in der Ukraine auf.
Timanowskaja reiste nach Wien
Eigentlich hat die belarussische Olympiaathletin Kristina Timanowskaja nach dem Eklat um ihre Kritik an der Entscheidung ihrer Trainer Asyl in Polen erhalten. Am Mittwoch verließ sie Tokio. Quelle: EBU
Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki attackierte zuvor die belarussische Spitze um Machthaber Alexander Lukaschenko scharf. Er forderte, die „Aggression der belarussischen Sicherheitsdienste auf japanischem Gebiet“ müsse auf „entschiedenen Widerspruch der internationalen Gemeinschaft stoßen“.
Timanowskaja hatte am Sonntag erklärt, sie sei nach einer Beschwerde über ihre Trainer zum Flughafen Tokio gebracht worden, um gegen ihren Willen in ihre Heimat zurückgeschickt zu werden. Auf dem Flughafen wandte sich die Sprinterin aber an die japanische Polizei und verweigerte den Rückflug.
Rufe nach Sperre von Belarussischem Olympischen Komitee
Konsequenzen hat der Fall auch auf der sportpolitischen Ebene. In der Nacht auf Mittwoch teilte das Internationale Olympische Komitee (IOC) mit, dass es den angeforderten schriftlichen Bericht des Belarussischen Olympischen Komitees zum Fall Timanowskaja erhalten habe. Dessen Leiter ist Viktor Lukaschenko, der älteste Sohn des Staatschefs Alexander Lukaschenko. Gegenüber Reuters erklärte Timanowskaja, ihr Cheftrainer habe ihr gesagt, „Anweisung von oben“ zu haben, sie zu „entfernen“.

Sportlerbündnisse wie Athleten Deutschland und Global Athlete machten sich für eine Sperre des Belarussischen Olympischen Komitees stark. Eine Entscheidung über mögliche IOC-Sanktionen noch während der Tokio-Spiele erscheint aber unwahrscheinlich. „Diese Dinge brauchen Zeit. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen“, hatte IOC-Sprecher Mark Adams bereits am Dienstag gesagt.
IOC setzt Disziplinarkommission ein
Zudem gab Adams bekannt, dass das IOC eine Disziplinarkommission einberufe, um die Tatsachen rund um die mutmaßlich von belarussischen Behörden versuchte Entführung der Sprinterin aus Tokio zu ermitteln.
Verantworten müssen sich vor allem der Leichtathletik-Cheftrainer von Belarus und der stellvertretende Direktor des nationalen Trainingszentrums. Diese beiden Funktionäre sollen Timanowskaja in Tokio mitgeteilt haben, dass sie wegen kritischer Äußerungen in den sozialen Netzwerken vorzeitig in ihre Heimat zurückkehren müsse.
Gegenüber der „Bild“-Zeitung sagte Timanowskaja, dass es ihr eigentlich nicht um Politik gegangen sei: „Ich habe nur kritisiert, dass unsere Cheftrainer über das Staffellauf-Team entschieden haben, ohne sich mit den Sportlern zu beraten.“ Sie habe sich nie gedacht, „dass das solche Ausmaße annehmen und zu einem politischen Skandal werden kann“.
Andere Sportler wollen Belarus verlassen
Unterdessen wollen weitere belarussische Athleten ihre Heimat verlassen. Jana Maximowa schrieb bei Instagram, sie und ihr Ehemann, der Sportler Andrej Krawtschenko, wollten künftig in Deutschland leben. In Belarus könne man seine Freiheit und sein Leben verlieren. „Hier ist die Chance, tief durchzuatmen und zu denjenigen zu gehören, die für die Freiheit ihres Volkes, ihrer Freunde, Verwandten und Lieben kämpfen.“
Am Mittwoch wurde bekannt, dass ein Handballtrainer aus Angst vor Verfolgung aus Belarus geflohen ist. Er halte sich bereits den zweiten Tag in der ukrainischen Hauptstadt Kiew auf, sagte Kontantin Jakowlew, Betreuer des Handballteams Witjas in Minsk, der belarussischen Hauptstadt. Der Aktivist der Unabhängigen Sportlerassoziation sei bereits 15 Tage im Gefängnis gesessen, weil er die Absicht gehabt hatte, offene Trainings abzuhalten. Diese würden von den belarussischen Behörden aber als „politische Versammlung“ angesehen.
Prozess gegen Kolesnikowa
Der belarussische Machtapparat von Lukaschenko geht hart gegen Kritikerinnen und Kritiker und Andersdenkende vor. Zuletzt hatte es Razzien gegen unabhängige Medien und Nichtregierungsorganisationen gegeben, bei denen mehrere Menschen festgenommen wurden. Erst am Montag listete die Menschenrechtsorganisation Wjasna 605 politische Gefangene im Land, am vergangenen Montag waren es noch 583 gewesen.
Die EU erkennt den immer wieder als „letzten Diktator Europas“ kritisierten Lukaschenko seit der weithin als gefälscht geltenden Präsidentenwahl vor rund einem Jahr nicht mehr als Staatsoberhaupt an. Bei Protesten in den Monaten nach der Wahl gab es mehrere Tote, Hunderte Verletzte und Tausende Festnahmen.
Eine von ihnen ist die Oppositionelle Maria Kolesnikowa. Rund elf Monate nach ihrer Festnahme begann am Mittwoch der Prozess gegen die 39-Jährige. Zur Verhandlung waren nur Staatsmedien, nicht aber Familienangehörige zugelassen. Kolesnikowa drohen bis zu zwölf Jahre Haft. Ihr werden Verschwörung mit dem Ziel einer illegalen Machtergreifung vorgeworfen. Sie spricht von einer „absurden Anschuldigung“.