Straßenszene in Kabul
Reuters/Omar Sobhani
Afghanistan

Botschafterin warnt vor Abschiebungen

Die Taliban sind seit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan praktisch im gesamten Land im Vormarsch. Die Sicherheitslage hat sich teils drastisch verschlechtert. Das betrifft die Menschen im Land, aber auch abgelehnte Asylwerber, die aus der EU – etwa von Österreich – nach Afghanistan abgeschoben werden sollen. Während das Innenministerium an den Abschiebungen festhält, betonte die afghanische Botschafterin in Wien: „Das Leben der Abgeschobenen steht auf dem Spiel.“

Botschafterin Manizha Bakhtari ersuchte die EU daher im Interview mit Ö1, den dreimonatigen Abschiebestopp, den die Regierung in Kabul im Juli erbeten hat, nicht nur umzusetzen, sondern auf vorerst unbestimmte Zeit zu verlängern. Sobald sich die Sicherheitslage verbessere, sollten die Rückführungen wiederaufgenommen werden. Bakhtari zufolge ist die Sicherheitslage dramatisch: Seit April habe es mehr als 5.500 Attacken und Anschläge durch die Taliban gegeben. Mehr als 4.000 Soldaten und 2.000 Zivilistinnen und Zivilisten, darunter auch Kinder, seien ums Leben gekommen.

Und in von den Taliban eroberten Regionen würden diese die Bevölkerung terrorisieren, so die Botschafterin: „Sie haben Hände abgeschlagen, sie haben geköpft und Frauen gesteinigt. Sie haben den Frauen befohlen, zu Hause zu bleiben und nur in männlicher Begleitung das Haus zu verlassen. Und sie haben alle Mädchenschulen geschlossen.“

Diese Woche hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einer einstweiligen Verfügung die Abschiebung eines Afghanen aus Österreich gestoppt und das mit der dortigen Sicherheitslage begründet.

„Geht um Überleben dieser Menschen“

Die Botschafterin betonte, sie „dränge“ darauf, die Bitte nach dem Abschiebestopp umzusetzen. Es gehe „um das Überleben dieser Menschen. Wenn sie zurückkommen, würden wir ihr Leben aufs Spiel setzen. Es herrscht Krieg. Wir erwarten, dass unsere europäischen Freunde diese Situation bedenken“, so Bakhtari.

Viele neue Binnenflüchtlinge

Wegen der gefährlichen Sicherheitslage „sind wir derzeit nicht in der Lage, Abgeschobene aufzunehmen“. Dazu komme, dass viele der Betroffenen selbst gar nicht in Afghanistan geboren wurden oder aufwuchsen, sondern in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan. Dort leben – teils seit Jahrzehnten – Millionen Menschen, die aus Afghanistan flüchteten, meist staatenlos und ohne Versorgung durch die Aufnahmeländer.

Die meisten hätten keine Familien in Afghanistan und keine Unterkunft. Die Regierung müsse Unterkünfte und Hilfe für die Abgeschobenen organisieren. Doch das sei derzeit schlicht unmöglich. Denn die jüngste Eskalation „hat zu einem massiven Anstieg von Vertriebenen innerhalb Afghanistans geführt und wir können schon sie nicht mit Essen, Unterkunft und anderem Lebensnotwendigen unterstützen“.

Irans Botschafterin in Österreich, Manizha Bakhtari
ORF/Bernt Koschuh
Bakhtari beim Interview in der Botschaft

Auch Kabul nicht mehr sicher

Dass große Städte in Afghanistan wie Kabul und Herat sicher seien, habe zwar noch bis vor wenigen Wochen gegolten, doch mittlerweile sei auch dort die Lage gefährlich.

Bakhtari ist laut eigenen Aussagen bewusst, dass der politische Druck in Österreich, abgewiesene afghanische Asylwerber abzuschieben, auch mit der Vergewaltigung und Tötung einer 13-Jährigen in Wien zusammenhängt. Mehrere Afghanen sind tatverdächtig und in U-Haft. Die Botschafterin zeigte sich im Interview entsetzt über das Verbrechen, betonte aber, die Verdächtigen würden nicht ihr Land repräsentieren. Sie betonte weiters, ihre Botschaft arbeite mit den heimischen Behörden zusammen, „damit Recht gesprochen wird“.

Nehammer: Initiative mit fünf weiteren EU-Ländern

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) hatte am Donnerstag betont, dass die Regierung an Abschiebungen nach Afghanistan festhalte. Die einstweilige Verfügung des EGMR hält das Ministerium für einen Einzelfall, NGOs sehen das freilich anders. Gemeinsam mit Deutschland, Dänemark, Belgien, den Niederlanden und Griechenland fordert Nehammer nach eigenen Angaben, dass Rückführungen nach Afghanistan aufrecht bleiben, um in erster Linie straffällig gewordene Afghanen aus der EU zu bringen.

Die Kommission solle diesbezüglich einen intensiven Dialog mit der Regierung in Afghanistan führen. Gleichzeitig solle es Hilfeleistungen bei der Betreuung von Flüchtlingen in den Nachbarländern Afghanistans geben und auch Afghanistan im Kampf gegen irreguläre Migration unterstützt werden.

10.518 Asylanträge im ersten Halbjahr

Am Freitag wurde auch die Asylstatistik des ersten Halbjahres bekannt. Von Jänner bis Juli habe es 10.518 Anträge gegeben. Das ist der höchste Wert seit 2017. 2015, dem Höhepunktjahr der Flüchtlingsbewegung, waren es zwischen Jänner und Juni fast 28.500.

Was die Herkunftsländer angeht, stehen weiter Syrien und Afghanistan an der Spitze. Zusammengerechnet machen Bürger und Bürgerinnen dieser Nationen mehr als 6.200 aller Antragsstellenden aus. Syrer mit nur sechs Prozent negativen Bescheiden haben eine gute Chance auf Anerkennung als Flüchtlinge. Bei Afghanen wurde ein Drittel der Ansuchen positiv beschieden.