Afghanische Sicherheitskräfte bekämpfen Taliban in Kunduz
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Afghanistan

Taliban erobern weitere Provinzhauptstädte

Der Vormarsch der radikalislamischen Taliban in Afghanistan dauert an. Die Terrorgruppe nahm am Sonntag sowohl die Provinzhauptstadt Kunduz im Norden des Landes als auch Taloqan in der angrenzenden Provinz Tachar ein. Erst kurz zuvor hatten die Islamisten auch die Stadt Sar-i Pul erobern können.

Sicherheitskräfte von Taloqan hätten sich aus der Stadt zurückgezogen, sagte Provinzrat Rohullah Raufi. Ein weiterer hochrangiger Beamter, der namentlich nicht genannt werden wollte, bestätigte, dass die Stadt gefallen sei.

Raufi zufolge zogen sich die Regierungskräfte in einen Bezirk rund 40 Kilometer vom Stadtzentrum zurück, um zivile Opfer und Zerstörung zu vermeiden. Die Stadt mit etwa 260.000 Einwohnerinnen und Einwohnern war seit mehreren Wochen umzingelt. Immer wieder hatten die Islamisten die Außenbezirke angegriffen. Tachar ist die Nachbarprovinz von Kunduz.

Schwere Kämpfe in Kunduz

Zuvor teilte ein Sprecher der afghanischen Sicherheitskräfte mit, in Kunduz seien extrem schwere Kämpfe im Gange. Laut Verteidigungsministerium sind Spezialkräfte im Einsatz, um von den Taliban erkämpfte Pressebüros zurückzuerobern. Die Stadt gilt als strategisch wichtig, weil sie am Zugang zu den an Rohstoffen reichen Provinzen im Norden des Landes und in Zentralasien liegt.

Damit brachten die Taliban innerhalb von drei Tagen fünf Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan Anfang Mai laufen mehrere Offensiven der Taliban. Erst konnten sie vor allem im ländlichen Raum große Gebietsgewinne verzeichnen. Sie kontrollieren mittlerweile mehr als die Hälfte der rund 400 Bezirke des Landes und auch mehrere Grenzübergänge. Zuletzt verlagerten sich die Kämpfe zunehmend in die Hauptstädte der 34 Provinzen.

Zerstörtes Gebäude in Lashkar Gah
AP/Abdul Khaliq
Viele Menschen stehen nach andauernden Kämpfen in Afghanistan nur noch vor den Trümmern ihrer Häuser

Die 370.000 Einwohner zählende Stadt Kunduz wurde seit Langem von Taliban-Kämpfern belagert. In den vergangenen zwei Tagen hätten die Islamisten ihre Angriffe intensiviert, sagten die Provinzräte. Abgesehen von einer Militärbasis rund drei Kilometer vom Stadtzentrum und dem Flughafen kontrollierten die Taliban nun die ganze Stadt. Dorthin seien Regierungsvertreter geflüchtet. Die Menschen in der Stadt hätten weder Wasser noch Essen. Sie hielten sich in ihren Häusern versteckt.

Kritische Lage in Sar-e Pol

Die Lage in der Stadt Sar-e Pol mit geschätzten 180.000 Einwohnern ähnelt der in Kunduz. Provinzräten zufolge haben die Islamisten seit Sonntagmorgen (Ortszeit) die wichtigsten Regierungsgebäude unter ihrer Kontrolle. Die Sicherheitskräfte hätten sich in der Nacht schwere Gefechte mit ihnen geliefert. Als allerdings der zweite Polizeibezirk fiel, hätten sie ihre Posten verlassen und sich in eine Militärbasis einen Kilometer vom Stadtzentrum zurückgezogen. Auch Regierungsvertreter befänden sich nun in dieser Militärbasis. Die Taliban feuerten Mörsergranaten auf sie.

Der Provinzrätin Massuma Shadab zufolge liegen mehrere Leichen in den Straßen. Es traue sich aber niemand, diese zu bergen. Sar-i Pul grenzt mit seinen reichen Ölfeldern im Osten an die Provinzen Balch mit der Hauptstadt Masar-i-Sharif und im Norden an die Provinz Jowzjan. Die Regierung halte in der Provinz nur noch den Bezirk Balkhab, sagten die Provinzräte weiter.

Städte fielen binnen kurzer Zeit

Am Freitag war schon die kleine Provinzhauptstadt Zaranj in Nimruz an der iranischen Grenze praktisch kampflos an die Taliban gefallen. Am selben Tag erschossen die Taliban den Sprecher der Regierung und des Präsidenten in seinem Auto. Am Samstag eroberten sie die Stadt Sheberghan in Jowzjan im Norden, Machtsitz des umstrittenen ehemaligen Kriegsfürsten und Ex-Vizepräsidenten Abdul Rashid Dostum, einer führenden Anti-Taliban-Figur.

Nach Angaben des afghanischen Verteidigungsministeriums fliegen die USA, die ihren Abzug aus Afghanistan praktisch abgeschlossen haben, weiter Luftangriffe in dem Land. Ein Taliban-Treffen in der Stadt Sheberghan sei mit B-52-Bombern angegriffen worden, teilte ein Sprecher auf dem Kurznachrichtendienst Twitter mit. Die US-Militärmission in Afghanistan endet am 31. August. Der Abzug ist amerikanischen Angaben zufolge zu mehr als 95 Prozent abgeschlossen. Die US-Botschaft in Kabul gab am Samstag eine neue Sicherheitswarnung heraus und forderte alle US-Bürgerinnen und -Bürger erneut „nachdrücklich“ auf, das Land zu verlassen.

Wendepunkt im Kampf gegen Regierungstruppen?

Im Moment sehe es so aus, als ob die Taliban schneller vordrängen als von allen erwartet, sagte der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network zur dpa am Samstag. „Die US-Truppen haben noch nicht einmal vollständig das Land verlassen, da greifen sie schon Provinzstädte an.“

Der Vormarsch der Taliban im Norden Afghanistans könnte sich als Wendepunkt im Kampf mit den Regierungsstreitkräften erweisen. Der Norden gilt seit Langem als Hochburg des Widerstands gegen die Islamisten. Die Region ist Heimat mehrerer Milizen und für die afghanische Armee wichtiges Rekrutierungsgebiet. Zudem ist die Stadt Kunduz ein wichtiges Handelszentrum nahe der Grenze zum Nachbarland Tadschikistan. Die Taliban hatten die Stadt bereits 2015 und 2016 kurzzeitig eingenommen. Beide Male wurden sie mit US-Luftangriffen zurückgedrängt.