Zerstörung in Kunduz
AP/Abdullah Sahil
Hauptstädte erobert

Taliban setzen Offensive in Afghanistan fort

Die Taliban haben am Sonntag ihre Offensive im Norden Afghanistans fortgesetzt: Allein am Sonntag eroberte die radikalislamische Miliz drei Provinzhauptstädte, darunter die strategisch wichtige Stadt Kunduz. Damit fielen innerhalb von drei Tagen fünf Provinzhauptstädte in die Hände der Islamisten.

Kunduz sei „nach heftigen Kämpfen“ in ihrer Hand, hieß es von den Taliban am Sonntag. Abgeordnete und Bewohner sowie Bewohnerinnen bestätigten die Einnahme. Am selben Tag nahmen die Aufständischen Sar-e Pol, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Nordwesten, sowie am frühen Abend Taloqan, die Hauptstadt der Provinz Tachar im Nordosten des Landes, ein.

Die Sicherheitskräfte von Taloqan hätten sich aus der Stadt zurückgezogen, sagte Provinzrat Rohullah Raufi, um zivile Opfer und Zerstörung zu vermeiden. Ein Mitglied des Militärs erklärte, das sei geschehen, „nachdem die Regierung keine Hilfe geschickt hat“. Die Stadt mit etwa 260.000 Einwohnerinnen und Einwohnern war seit mehreren Wochen umzingelt. Immer wieder hatten die Islamisten die Außenbezirke angegriffen. Tachar ist die Nachbarprovinz von Kunduz.

Zerstörung in Kunduz
AP/Abdullah Sahil
Bei der Eroberung wurde viele Gebäude zerstört

Aus Sar-e Pol hätten sich Regierungsbeamte und die verbliebenen Streitkräfte in eine Kaserne rund drei Kilometer vor der Stadt zurückgezogen, berichtete die Frauenrechtsaktivistin Parwina Asimi der Nachrichtenagentur AFP am Telefon. Laut einem Vertreter des Provinzrats umstellten die Taliban das Gelände. Sar-e Pol grenzt mit seinen reichen Ölfeldern im Osten an die Provinzen Balch mit der Hauptstadt Masar-i-Sharif und im Norden an die Provinz Jowzjan.

Militär versucht Rückeroberung von Kuduz

Die afghanischen Truppen starteten nach Angaben des Verteidigungsministeriums eine Offensive zur Rückeroberung wichtiger Einrichtungen in Kundus. Ein Sprecher der afghanischen Sicherheitskräfte teilte mit, in Kunduz seien extrem schwere Kämpfe im Gange. Die Stadt befinde sich im „totalen Chaos“, berichtete ein Einwohner. Bilder zeigten, wie Taliban-Kämpfer Hunderte Häftlinge aus dem Gefängnis freiließen.

Afghanistan: Taliban erobern Kunduz

Der Vormarsch der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan dauert an. Die Terrorgruppe nahm am Sonntag die Provinzhauptstadt Kunduz im Norden des Landes ein.

Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Mai haben die Taliban bereits weite Teile des Landes erobert. Erst konnten sie vor allem im ländlichen Raum große Gebietsgewinne verzeichnen. Sie kontrollieren mittlerweile mehr als die Hälfte der rund 400 Bezirke des Landes und auch mehrere Grenzübergänge. Zuletzt verlagerten sich die Kämpfe zunehmend in die Hauptstädte der 34 Provinzen.

Die Einnahme der 370.000 Einwohner zählenden Stadt Kunduz ist ihr bisher größte Erfolg. Die Stadt gilt als strategisch wichtig, weil sie am Zugang zu den an Rohstoffen reichen Provinzen im Norden des Landes und in Zentralasien liegt.

Militär von Vormarsch überrumpelt

Der Vormarsch der Taliban im Norden Afghanistans könnte sich als Wendepunkt im Kampf mit den Regierungsstreitkräften erweisen. Der Norden galt lange als Hochburg des Widerstands gegen die Islamisten. In der Region gibt es mehrere Milizen, sie ist für die afghanische Armee auch wichtiges Rekrutierungsgebiet. Die Geschwindigkeit, mit der die Islamisten vordringen, hat das afghanische Militär überrumpelt.

Zerstörtes Gebäude in Lashkar Gah
AP/Abdul Khaliq
Viele Menschen stehen nach andauernden Kämpfen in Afghanistan vor den Trümmern ihrer Häuser

Am Freitag hatten die Taliban mit der südwestlichen Stadt Zaranj die erste Provinzhauptstadt eingenommen, einen Tag später folgte Sheberghan in der nördlichen Provinz Jowzjan. Auch vom Stadtrand der Provinzhauptstädte Herat nahe der Grenze zum Iran sowie Lashkargah und Kandahar im Süden wurden Gefechte gemeldet.

USA bombardierten Stellungen in Scheberghan

Die Regierung in Kabul äußerte sich zunächst nur zurückhaltend zum Fall der Provinzhauptstädte. Sie erklärte lediglich, die Armee werde die Städte zurückerobern. Unterstützung erhielt die afghanische Armee am Samstag durch das US-Militär, das von außerhalb des Landes Taliban-Stellungen in Sheberghan bombardierte.

Sheberghan ist die Bastion des berüchtigten Kriegsherrn Abdul Rashid Dostum. Er stand in den 1990er Jahren einer der größten Milizen im Norden Afghanistans vor, seine Kämpfer gingen mit extremer Brutalität gegen die Taliban vor. Sollte sich Dostums Miliz aus der Region zurückziehen, wäre das für die Regierung in Kabul ein herber Schlag. Sie setzt in ihrem Kampf gegen die Taliban auch auf die Unterstützung durch örtliche Kriegsherren.

Zahl der Binnenflüchtlinge stark gestiegen

Taliban-Kämpfer töteten unterdessen den Leiter eines Radiosenders in Kabul getötet. Tufan Omar sei am Sonntag in der afghanischen Hauptstadt gezielt umgebracht worden, sagte ein Behördenvertreter in Afghanistans Hauptstadt. In der südlichen Provinz Helmand sei zudem ein Lokaljournalist von den Taliban entführt worden. Ein Taliban-Sprecher sagte, ihm lägen zu beiden Fällen keine Informationen vor.

Medienvertreter sehen sich in Afghanistan immer wieder Angriffen ausgesetzt. Nach Angaben der Bürgerrechtsgruppe NAI, deren Mitglied der getötete Radiomanager war, wurden allein in diesem Jahr 30 Journalisten und Medienmitarbeiter von militanten Gruppen getötet, verletzt oder verschleppt. Mehrere afghanische Nachrichtenanbieter haben die USA aufgefordert, afghanischen Medienschaffenden Zuflucht zu gebieten.

Immer mehr Menschen befinden sich wegen der prekären Sicherheitslage im Land auf der Flucht. Die Zahl der Binnenflüchtlinge stieg seit Anfang Mai stark. Bis Ende Juli verließen annähernd eine Viertelmillion Menschen in dem Land ihre Dörfer und Städte. Die UNO-Agentur zur Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) bezifferte die Zahl am Montag auf mehr als 244.000 – mehr als viermal so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahrs. Der Großteil der Binnenflüchtlinge floh aus Provinzen im Nordosten und Osten vor den Kämpfen.