Buchcover von Matou
ORF.at
Michael Köhlmeier

Sieben Leben eines Katers

Der österreichische Bücherherbst hat richtig Fahrt aufgenommen. Nach Ferdinand Schmalz‘ Debütroman „Mein Lieblingstier heißt Winter“ und Eva Menasses „Dunkelblum“ erschien mit Michael Köhlmeiers „Matou“ am Montag ein weiterer langerwarteter Spitzentitel. Ein Buch wie gemacht für die letzten Ferienwochen: Auf epischen 960 Seiten lässt Köhlmeier einen Kater aus seinen sieben Leben erzählen. Zum Eintauchen und Mitphilosophieren.

Unter der Guillotine, dort, wo die zentimeterhohen Blutpfützen standen, tummelten sie sich mit Vorliebe: Die Pariser Straßenkatzen liebten diese makabre Mahlzeit, das erfuhr Köhlmeier von einem Stahlstich aus der Zeit der französischen Revolution. „Schlagartig“, so erzählt er nun im Gespräch mit ORF.at, sei ihm daraufhin die Idee zu „Matou“ gekommen, dem Roman, mit dem er nun den Umfang seiner früheren Romane noch ein gutes Stück in den Schatten stellt: „Abendland“ (2007), der große Erfolg des 1946 geborenen Vielschreibers, hatte „nur“ 780 Seiten.

Mit „Matou“ hat Köhlmeier, einer der erfolgreichsten und meistgelesenen Autoren des deutschen Sprachraums, wieder ein für ihn typisches, breites Geschichtspanorama samt leichtfüßig mitverhandelter Wissens- und Ideengeschichte verfasst. Die Besonderheit diesmal: „Matou“ ist aus der Perspektive eines Katers geschrieben. Und dieser Matou ist wirklich außergewöhnlich, kann er doch sprechen, schreiben und lesen, und den humanistischen Bildungskanon und die philosophischen Schlüsselwerke im echten Blitztempo aufsaugen (Anna Karenina etwa in 20-minütiger Lesezeit).

Dass Matou mit seiner Klugheit und Belesenheit protzt (Leselisten werden gleich mitgeliefert), ist zwar gelegentlich anstrengend, aber durchaus verständlich: „Wer würde nicht angeben, wenn er der belesenste Kater der Weltgeschichte wäre“, bringt sein „langsam lesender“ Schöpfer Köhlmeier verteidigend vor.

Michael Köhlmeier
Peter-Andreas Hassiepen
Michael Köhlmeier, „Geschichtenerzähler der Nation“, lebt im Hohenems, Vorarlberg, mit zwei Katzen

Memoiren einer Katzenkunstfigur

Mit „Matou“ hat Köhlmeier ein dichtes Romangeflecht im Gewand der Memoiren einer Kunstfigur geschaffen. Die Geschichte basiert auf der Vorstellung, dass Katzen sieben Leben haben. Im siebten und letzten Leben als Kater der älteren Dame Ingeborg Novak und deren Neffen Daniel in einer gemütlichen Villa im 19. Wiener Gemeindebezirk der Gegenwart lebend, hat Matou beschlossen, die „Schreibkralle an der rechten Vorderpfote“ in die selbst zusammengemixte Tinte zu stecken und alles aufzuschreiben.

Diese Rahmenhandlung, in der der bildungshungrige Kater sich auch zum Berater und Coach des krisengebeutelten Studienanfängers Daniel entwickelt, ist der Ausgangspunkt, um auf teils verschlungenen Pfaden in historische Mikrokosmen einzutauchen, die von der Geschichte der Aufklärung bis heute reichen: In seinem ersten Leben bekommt Matou im Revolutionärshaushalt von Camille Demoulins 1794 die Intensität der Zeit der französischen Revolution zu spüren.

Später begegnet man ihm als Einflüsterer des deutschen Romantikers E.T.A. Hoffmann, dann im Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts und als Kater von Andy Warhol. Keine Überraschung, dass der Roman prall gefüllt ist mit Verweisen auf die Literaturgeschichte, vom Märchen „Der gestiefelte Kater“ über Franz Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“ bis zu den „Lebens-Ansichten des Katers Murr“, mit dem Hoffmann bereits 1819/21 eine (im Gegensatz zu Köhlmeier aber satirisch angelegte) Geschichte aus der Perspektive eines klugen Katers verfasst hat.

Grundlegende philosophische Fragen

Weniger belesene Leserinnen und Leser können aber entwarnt sein: Bei „Matou“ geht es weniger darum, alle Referenzen zu erkennen. Viel wichtiger ist dagegen ein Interesse für grundlegende philosophische Fragen. Der rote Kater mit der weißen Schwanzspitze will nämlich seine Gestalt behalten, zugleich aber „wie ein Mensch“ sein – und so erklärt sich auch, warum er weniger aus der Welt der Katzen, sondern viel mehr über jene der Menschen zu berichten hat.

Buchcover von Matou
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Michael Köhlmeier: Matou. Hanser, 960 Seiten, 35,00 Euro. Buchpremiere im Wiener Burgtheater, 16. September, 20.00 Uhr.

Köhlmeier macht sich dabei die naive Tierperspektive zunutze und lässt Matou mit seinen teils prominenten Gegenüber Grundlegendes zur menschlichen Sprache, zu Charme und Charisma oder dem Unterschied zwischen Mensch und Tier diskutieren. Entstanden ist das Buch übrigens in Begleitung seiner an den Bildschirm geschmiegten Katze. „Ich hab mich nie beim Schreiben eines Buchs so frei gefühlt wie bei diesem“, so Köhlmeier zu den Vorteilen eines „ontologisch aus anderer Sicht“ geschriebenen Buchs.

Bei aller Belesenheit präsentiert sich dieser Matou aber als gar nicht harmloser Zeitgenosse. Auf der griechischen Insel Hydra (Köhlmeier: „Dort leben bis zu fünf Mal mehr Katzen als Menschen“) errichtet er unter Anwendung seines Wissens gleich eine Katzendiktatur. Als Leopard startet er im Belgisch-Kongo an der Seite eines von den Kolonialherren verstümmelten Mädchens einen brutalen Rachefeldzug – und auch die blutige Mahlzeit nach der Enthauptung seines geliebten ersten Herren lässt er sich nicht entgehen. Wobei Matou bald zur Erkenntnis erlangt, dass die Menschen weit grausamer sind als die Tiere.

Katzenhimmel frei von „Zwicken und Zwacken“

Zwischendurch – als wiederkehrendes strukturierendes Element – landet Matou im Katzenhimmel, den er „Weggemachtes“ nennt, „weil was im Diesseits gezwickt, gezwackt, gejuckt und gezuckt hat, dort weggemacht ist“. Dort angekommen kann er sich mittels des „großen Katalogs“ aussuchen, wohin es im nächsten Leben geht – was gut überlegt sein will: Die Gefahr, dass die Menschen verrückt werden, wenn Katzen mit ihnen sprechen, scheint nämlich sehr groß.

Dieser Katzenhimmel ist nur eines der ungeheuer fantasievollen und liebevoll oft bis ins Realistische ausgefuchsten Details: So werden nicht zuletzt die physiognomischen Hürden geschildert, die das Erlernen der Menschensprache für eine Katze mit sich bringt. Mit „Matou“, dieser abenteuerlichen, an Wissen und Themen panoramatisch weiten Entwicklungsgeschichte zeigt Köhlmeier, dass er zu Recht als Österreichs begnadetster Geschichtenerzähler gilt.