Polizeibeamte begleiten einen Afghanen auf dem Flughafen Leipzig-Halle in ein Charterflugzeug
APA/dpa/Michael Kappeler
Afghanistan

Deutschland stoppt vorerst Abschiebungen

Wegen der dramatischen Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan schieben die Niederlande und Deutschland vorerst keine abgelehnten Asylwerber mehr dorthin ab. „Der Innenminister (Horst Seehofer, CSU, Anm.) hat aufgrund der aktuellen Entwicklungen der Sicherheitslage entschieden, Abschiebungen nach Afghanistan zunächst auszusetzen“, sagte ein Sprecher des deutschen Innenministeriums am Mittwoch der dpa in Berlin. Österreich bleibt indes bei Abschiebungen.

In Deutschland wird eine in der vergangenen Woche verschobene Abschiebung von sechs Afghanen zunächst nicht nachgeholt. Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich seit der Entscheidung über den Abzug der internationalen Truppen aus dem Land Mitte April dramatisch verschlechtert. Die militant-islamistischen Taliban haben inzwischen wieder neun Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle gebracht. Laut „Washington Post“, die sich auf Quellen in den US-Geheimdiensten beruft, wird erwartet, dass die Hauptstadt Kabul in ein bis drei Monaten von den Taliban eingenommen wird.

Die in Kabul vertretenen EU-Botschafter hatten sich erst am Dienstag für einen Abschiebestopp ausgesprochen. Auch 26 Organisationen, darunter Amnesty International, Pro Asyl, Caritas und Diakonie, plädierten in einer gemeinsamen Erklärung dafür. Das deutsche Außenministerium erstellt derzeit einen neuen Asyllagebericht für Afghanistan, der normalerweise die Hauptgrundlage für die Entscheidung über Abschiebungen ist. Dieser Bericht liegt aber noch nicht vor. Seit 2016 wurden mehr als 1.000 Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgebracht, überwiegend Straftäter.

ABD0010_20190806 – LEIPZIG – DEUTSCHLAND: 01.08.2019, Sachsen, Leipzig: Polizeibeamte begleiten Afghanen auf dem Flughafen Leipzig-Halle in ein Charterflugzeug. 45 abgelehnte Asylbewerber wurden mit dem Sonderflug in Afghanistans Hauptstadt Kabul abgeschoben.(zu dpa-Story: Abschiebeflug nach Afghanistan) Foto: Michael Kappeler/dpa +++ dpa-Bildfunk +++. – FOTO: APA/dpa/Michael Kappeler
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Deutsche Polizeibeamte begleiten Afghanen vom Flughafen Leipzig-Halle nach Afghanistan

Österreich bleibt bei Abschiebungen

Deutschland und die Niederlande hatten unlängst gemeinsam mit Österreich eine Fortsetzung der Abschiebungen verlangt. „Jeder Staat entscheidet hier für sich. Österreich hält an seinen Planungen für Rückführungen nach wie vor fest“, teilte ein Sprecher des Innenministeriums nach der Entscheidung der beiden Länder mit. „Ein faktisches Aussetzen von Abschiebungen steht derzeit nicht zur Diskussion.“

Die Lage in Afghanistan werde gemeinsam mit dem Außenministerium laufend beobachtet und beurteilt. „Gleichzeitig steht Österreich bereit, Afghanistan im Rahmen konkreter Hilfsersuchen zu unterstützen, um seinen internationalen Verpflichtungen nachkommen zu können“, so der Sprecher weiter.

Das österreichische Rote Kreuz rief am Mittwoch in einer Aussendung „die Verantwortlichen dazu auf, ihre Haltung zu Abschiebungen in dieses Land zu überdenken“. Die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, lobte die Entscheidung Deutschlands. „Das sind gute Nachrichten und aufgrund der Sicherheitslage unumgängliche Entscheidungen“, schrieb sie auf Twitter.

Keine Angaben zu geplanten Abschiebeflug

Das österreichische Innenministerium wollte gegenüber der APA Medienberichte über einen für September geplanten Abschiebeflug nach Afghanistan nicht kommentieren. Charterrückführungen würden seitens des Ministeriums „weder im Vorfeld ‚angekündigt‘ noch verifiziert oder falsifiziert. Das würde jegliche Planungen für die zwangsweise Außerlandesbringung von Personen, die trotz einer rechtskräftig negativen Entscheidung und einer Ausreiseverpflichtung Österreich nicht freiwillig verlassen haben, unmöglich machen“, so ein Sprecher.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat ihre Abschiebeflüge schon vor längerer Zeit ausgesetzt. Zuletzt wollte Deutschland Abschiebungen per Flugzeug organisieren, der entsprechende Flug kam jedoch nicht zustande.

Deutschland und Niederlande stoppen Afghanistan-Abschiebungen

Aufgrund der sich zuspitzenden Sicherheitslage im Krisenland Afghanistan stoppen nun auch Deutschland und die Niederlande die Abschiebungen.

Afghanistan hatte im Juli wegen der Sicherheitslage im Land um einen dreimonatigen Abschiebestopp gebeten und einem für vergangene Woche geplanten Abschiebeflug von München nach Afghanistan, auf dem auch zwei aus Österreich abzuschiebende Afghanen hätten sein sollen, keine Landeerlaubnis erteilt. Zudem hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – mit Verweis auf die Sicherheitslage in Afghanistan – mittels einstweiliger Verfügung die geplante Abschiebung eines abgelehnten Asylwerbers aus Österreich gestoppt.

Auch Niederlande setzen Abschiebungen aus

Die Niederlande werden in den kommenden sechs Monaten keine abgewiesenen Asylwerber und -werberinnen mehr nach Afghanistan abschieben. Durch den Vormarsch der Taliban habe sich die Lage deutlich verschlechtert, teilte die zuständige Staatssekretärin im Justizministerium, Ankie Broekers-Knol, am Mittwoch in Den Haag dem Parlament mit. Auch würden in den nächsten zwölf Monaten keine weiteren Entscheidungen über Abschiebungen gefällt.

Das Außenministerium bewerte die Sicherheitslage neu, teilte die Staatssekretärin mit. Danach solle eine endgültige Entscheidung über Abschiebungen getroffen werden. Noch in der vergangenen Woche hatte die Regierung die Behörden in Afghanistan gedrängt, weiterhin abgeschobene Asylsuchende aufzunehmen. Abgeordnete von drei Koalitionsparteien sowie Flüchtlingsorganisationen hatten das scharf kritisiert und einen Abschiebestopp verlangt.

Zuvor scharfe Kritik von Asselborn

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hatte zuvor den Vorstoß von sechs EU-Ländern – darunter auch Österreich – kritisiert, die grundsätzlich weiterhin an Abschiebungen nach Afghanistan festhalten wollen. „Es gibt keine Garantie dafür, dass die Betroffenen nicht in die Hände der Taliban fallen“, sagte Asselborn dem deutschen „Tagesspiegel“ (Mittwoch-Ausgabe). Er könne angesichts der Initiative „nur den Kopf schütteln“.

Eine Diskussion über mögliche Abschiebungen sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts der angespannten Sicherheitslage verfehlt, sagte Asselborn dem „Tagesspiegel“. Österreich hatte gemeinsam mit Deutschland, den Niederlanden, Dänemark, Belgien und Griechenland die EU in einem Brief zu einer Fortsetzung der Abschiebungen gedrängt. Die Niederlande und Deutschland schwenkten nun aber um.

EU-Botschafter in Afghanistan empfahlen Aussetzen

Die EU-Botschafter in Afghanistan hatten am Dienstag empfohlen, Abschiebungen in das Krisenland auszusetzen. Angesichts des sich verschärfenden Konflikts, der prekären Sicherheits- und Menschenrechtslage sowie des Mangels an sicheren Räumen im Land werde empfohlen, eine vorübergehende Aussetzung von Zwangsrückführungen aus EU-Mitgliedsstaaten nach Afghanistan zu erwägen, hieß es in einem am Dienstag an die Mitgliedsstaaten versendeten Bericht der EU-Missionschefs in Kabul.

Es ist ungewöhnlich, dass eine derartige Empfehlung ausgedrückt wird. Migrationsfragen sind eigentlich Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Die Missionschefs im Land können bestimmte Themen analysieren und hinterfragen, aber nicht in Hauptstadtentscheidungen eingreifen. In Kabul betreiben noch acht EU-Länder Botschaften, u. a. Deutschland, die Niederlande, Tschechien und Italien, aber nicht Österreich. Alle Missionschefs haben den Bericht unterzeichnet.

Österreich war nicht eingebunden. Aus dem österreichischen Außenministerium hieß es auf APA-Anfrage: „Der Bericht zur Sitzung der EU-Missionschefs in Kabul und die darin enthaltenen Empfehlungen wurden mit der für Afghanistan zuständigen österreichischen Botschaft in Islamabad nicht koordiniert.“

Massenhinrichtungen, Frauen de facto eingesperrt

Berichte aus den Regionen in Afghanistan legten nahe, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, teilte UNO-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet am Dienstag in Genf mit. Aus Gebieten, die die Taliban eingenommen haben, würden Massenhinrichtungen gemeldet sowie Angriffe auf Regierungsvertreter und ihre Familien, erklärte die Menschenrechtskommissarin. Schulen, Kliniken und Wohnhäuser würden zerstört und Anti-Personen-Minen ausgelegt.

Frauen dürften laut diesen Berichten ihre Häuser nicht mehr verlassen. In einigen Fällen sollen Frauen in der Öffentlichkeit geschlagen worden sein, wenn sie gegen die neuen Regeln verstießen. Eine Frauenrechtlerin sei erschossen worden. „Die Menschen befürchten zu Recht, dass die Machtübernahme der Taliban alle Fortschritte der letzten zwei Jahrzehnte im Menschenrechtsbereich ausradiert“, sagte Bachelet.