Illustration zur Herdenimmunität zeigt einen gelben Kopf inmitten vieler blauer Köpfe
Getty Images/iStockphoto/wildpixel
Coronavirus

Delta und die Frage der Herdenimmunität

Wer vollständig gegen das Coronavirus geimpft ist, hat einen sehr hohen Schutz vor einem schweren Krankheitsverlauf, das gilt auch im Fall der infektiöseren Delta-Variante. Das Risiko, sich anzustecken, ist für Vollgeimpfte ebenfalls geringer, aber nicht null. Schon alleine deshalb wird es keine Herdenimmunität geben, sagen einige Fachleute. An der Wichtigkeit einer hohen Durchimpfungsrate ändere das aber nichts – Ziel müsse es bleiben, die Pandemie möglichst gut einzudämmen.

Die Zahl der Neuinfektionen in Österreich ist in den vergangenen Tagen vor allem bei Jüngeren kräftig gestiegen. Auf den Intensivstationen und bei den Todesfällen spiegelt sich diese Entwicklung derzeit nicht wider. Ein gewichtiger Faktor ist die Schutzimpfung gegen das Coronavirus. Aus internationalen Daten wisse man mittlerweile, dass die Impfung neun von zehn schweren Verläufen verhindere, sagte Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich (GÖG), dem „Kurier“: „Das ist ein Erfolg der Impfung, der sich auch an der vergleichsweise niedrigeren Auslastung der Krankenhäuser zeigt.“

Die mittlerweile auch hierzulande dominierende Delta-Variante hat daran nichts geändert. Anders das Bild beim Schutz vor einer Ansteckung: Dieser dürfte durch Delta tatsächlich vermindert sein und könnte überdies mit der Zeit abnehmen, wie Daten aus Großbritannien, den USA und Israel nahelegen. Auch unter Vollgeimpften kann es zu CoV-Infektionen und dem Auftreten von Covid-19-Symptomen kommen. Von den über 260.000 Menschen, die heuer in Österreich am Coronavirus erkrankt sind, waren 1.656 geimpft, die meisten davon vollständig – mehr dazu in science.ORF.at .

Schutz vor Ansteckung gegeben, aber nicht 100 Prozent

Fachleute verweisen darauf, dass die CoV-Impfung per se keinen 100-prozentigen Schutz vor einer Infektion bietet und ihren Hauptzweck – das Verhindern schwerer Verläufe – auch bei der Delta-Variante erfüllt. Dennoch hat die zunächst in Indien nachgewiesene Variante für neue Herausforderungen in der Pandemiebekämpfung gesorgt.

Eine mit der Delta-Variante infizierte Person steckt Schätzungen zufolge sechs bis sieben weitere an – deutlich mehr als alle bisher aufgetretenen Virusvarianten. Infizierte tragen wohl eine wesentlich höhere Viruslast im Rachen, wie Untersuchungen aus verschiedenen Ländern zeigen. Zudem liegen Hinweise darauf vor, dass die Viruslast bei vollständig geimpften Infizierten ähnlich hoch ist wie bei ungeimpften. Ob das bedeutet, dass geimpfte Infizierte potenziell ähnlich ansteckend wie ungeimpfte sind, ist wissenschaftlich noch nicht abschließend geklärt.

Und doch zeigt sich auch in Sachen Ansteckung der Effekt der Impfungen. Aktuellen britischen Daten zufolge haben vollständig Geimpfte zwischen 18 und 64 Jahren ein um 49 Prozent niedrigeres Infektionsrisiko als Ungeimpfte. Bei infizierten Vollgeimpften lässt sich zudem eine ausgeprägte Immunantwort messen. Die Viruslast fällt bei ihnen wesentlich schneller als bei Menschen ohne Impfschutz.

„Mythos“ Herdenimmunität

Zu Beginn der Pandemie bestand die Hoffnung, mit Hilfe von Impfstoffen eine Herdenimmunität herzustellen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ging noch Ende des Vorjahres davon aus, dass die Durchimpfungsrate der Bevölkerung dafür bei 60 bis 70 Prozent liegen müsse. Delta hat die Berechnungen durcheinandergewirbelt: Das deutsche Robert-Koch-Institut (RKI) gibt diesen Wert mittlerweile mit mehr als 80 Prozent an, andere Fachleute errechneten Werte jenseits der 90 Prozent.

Der Vorsitzende des britischen Ausschusses für Impfungen und Immunisierung (JCVI), Andrew Pollard, nannte das Erreichen einer Schwelle für Herdenimmunität jüngst überhaupt einen „Mythos“. Die Delta-Variante werde teilweise auch Geimpfte infizieren, was bedeute, dass jeder Ungeimpfte irgendwann auf das Virus treffe, so Pollard.

„Welle der Ungeimpften“

In Österreich werde die nächste Welle „eine Welle der Ungeimpften“ sein, sagte der Epidemiologe Gerald Gartlehner gegenüber Ö1. Er hält ebenso wie der Komplexitätsforscher Peter Klimek eine Überlastung der Intensivstationen für sehr unwahrscheinlich. Großflächige Schließungen werden im Herbst nicht erforderlich sein, sagten die Experten, Schutzmaßnahmen wie Maskentragen brauche es aber weiterhin. In manchen Bereichen – etwa Sport in Innenräumen und Nachtgastronomie – könnten laut Klimek auch Einschränkungen notwendig werden.

Virologe Krammer: Prognosen durch Delta schwierig

Virologe und Impfstoffexperte Florian Krammer erwartet im Herbst keine neuen Lockdowns. Ihm zufolge sind Prognosen aufgrund der Delta-Variante jedoch schwierig, da diese einiges auf den Kopf gestellt hat.

Beide Experten gehen davon aus, dass die Zahl der von einer Coronavirus-Infektion genesenen Menschen – mehr als 640.000 hatten sich nachweislich angesteckt – doppelt so hoch ist. Knapp 55 Prozent der Gesamtbevölkerung sind vollständig geimpft. Zusammengezählt werden können die beiden Gruppen nur eingeschränkt – viele, die Covid-19 unerkannt durchgemacht haben oder symptomfrei blieben, könnten mittlerweile bereits geimpft worden sein.

Wie sich die Pandemie im Herbst entwickeln wird, ist noch unklar. Klimek rechnet jedenfalls mit weniger Spitalsaufenthalten bei gleich hohen Fallzahlen wie bei den vorangegangenen Wellen. Ob das um den Faktor zwei, drei, vier oder fünf sein wird, hänge von der pandemischen Phase ab, sagte der Forscher. Gartlehner betonte die Wichtigkeit der dritten Impfung, also der ersten Auffrischung. Diese soll laut Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) in Österreich am 17. Oktober starten.

„Vergesst das Thema Herdenimmunität“

Unabhängig von der Frage der Herdenimmunität halten die meisten Fachleute eine hohe Durchimpfungsrate für essenziell im Kampf gegen die Pandemie. Der renommierte US-Immunologe Anthony Fauci erklärte bereits im Juni gegenüber der „New York Times“, die klassische Definition von Herdenimmunität greife bei SARS-CoV-2 nicht. „Vergesst das Thema Herdenimmunität und impft so viele Menschen wie möglich so schnell wie möglich“, um die Zirkulation des Virus zu bremsen, so Fauci.

Die Überlegung dahinter: Je weniger Menschen im gleichen Zeitraum schwer erkranken, desto geringer die Belastung der Spitäler. Und da vollständig Geimpfte seltener erkranken, drosselt eine hohe Durchimpfungsrate die Geschwindigkeit, mit der sich der Erreger in der Gesellschaft verbreitet. Das spannt einen Schutzschirm über Gruppen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können oder für die – wie im Fall von Kindern unter zwölf Jahren – noch keine Vakzine zugelassen sind.

Eine hohe Durchimpfungsrate könnte zudem die Entstehung neuer virulenter Virusvarianten verhindern. Diesen Schluss legt eine im Preprint vorliegende Studie des Institute of Marine and Environmental Technology am Columbus Center in Baltimore (USA) nahe, über die „Science Buster“ Martin Moder und der „Standard“ am Donnerstag berichteten. In Österreich ist jedenfalls in Sachen Impfquote noch Luft nach oben. Die Zahl der Erstimpfungen stagnierte in den vergangenen Wochen.