Mitglieder der Afghanischen Spezialeinheit nahe Kandahar
Reuters/Danish Siddiqui
Islamistenoffensive

Taliban nehmen große Städte ein

Die Taliban haben am Donnerstag die Städte Ghazni und Herat eingenommen und damit die bedeutendsten Eroberungen seit Beginn ihrer Offensive erzielt. Zusätzlich meldeten die militanten Islamisten am Freitag die Einnahme der zweitgrößten Stadt Kandahar. „Kandahar ist vollkommen erobert“, erklärte ein Taliban-Sprecher auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Ein Anrainer sagte der Nachrichtenagentur AFP, die afghanische Armee habe sich offenbar aus der Kandahar zurückgezogen. Zahlreiche Soldaten begaben sich demnach zu einer Militäreinrichtung außerhalb der Stadt.

Nur Stunden zuvor wurde der Fall Herats gemeldet, der drittgrößten Stadt des Landes. Die wichtigsten Regierungseinrichtungen der Stadt im Westen des Landes seien in den Händen der Islamisten, bestätigten drei lokale Behördenvertreter der dpa am Donnerstag. Erst am Donnerstagfrüh (Ortszeit) war die strategische Stadt Ghazni im Südosten gefallen.

Wochenlange Angriffe

Dem Fall der historischen Stadt Herat mit ihren geschätzt 600.000 Einwohnerinnen und Einwohnern waren wochenlange Angriffe auf die Stadt vorausgegangen. Die Taliban konnten zunächst von den Sicherheitskräften und Milizen des dort heimischen Politikers und ehemaligen Kriegsfürsten Ismail Khan in Schach gehalten und teils auch wieder zurückgedrängt werden.

Provinzräte berichteten seit Donnerstagnachmittag (Ortszeit) von zunehmenden Gefechten in Herat. Die Taliban seien aus dem Osten in die Stadt vorgedrungen und bis zu 200 Meter an den Gouverneurssitz gelangt. Die Milizen von Khan seien im Westen der Stadt damit beschäftigt gewesen, einen Angriff der Islamisten abzuwehren. Auch vom Norden seien diese vorgerückt, sagte ein weiterer Provinzrat.

Taliban-Kämpfer in der Stadt Ghazni
AP/Gulabuddin Amiri
Taliban-Kämpfer in der Stadt Ghazni

Gefangene freigelassen

Am Donnerstagabend (Ortszeit) seien schließlich der Gouverneurspalast, das Polizeihauptquartier und das Gefängnis unter Kontrolle der Taliban gewesen. Die Islamisten hätten, wie schon in anderen von ihnen eroberten Städten, die Gefangenen freigelassen. Die Sicherheitskräfte hätten nicht gekämpft, erklärte der Provinzrat Ghulam Habib Hashimi.

Nur die kürzlich von Khan zusammengesammelten Kräfte des Volksaufstandes hätten sich gegen die Übernahme der Stadt gewehrt, sagte Hashimi weiter. Der Gouverneur und andere Offizielle hätten sich in eine Militärbasis in der Nähe des Flughafens zurückgezogen. Derzeit ist nicht klar, wo sich Khan befand, der als einer der Führer der Nordallianz 2001 den USA geholfen hatte, die Taliban zu vertreiben.

Grafik zum Vormarsch der Taliban in Afghanistan
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: longwarjournal.org/Guardian

In den vergangenen Wochen waren die Taliban laut lokalen Behördenvertretern immer wieder für Kurzangriffe in die Stadt eingedrungen und hätten sich dann sofort wieder zurückgezogen. Damit und mit in sozialen Netzwerken verbreiteten Selfies von sich in der Stadt hätten sie Schrecken unter den Bürgerinnen und Bürgern verbreitet, sagte der Sprecher des Gouverneurs der Provinz von Herat.

Erst am Donnerstagvormittag (Ortszeit) war die strategische Stadt Ghazni im Südosten des Landes an die Taliban gefallen. Der überwiegende Teil der eroberten Städte befindet sich im Norden des Landes. Ghazni liegt von all den gefallenen Städten Kabul am nächsten. Seit dem Beginn des US- und NATO-Truppenabzugs der USA Anfang Mai haben die Taliban signifikante Gebietsgewinne verzeichnet.

3.000 US-Soldaten sollen Ausreisende sichern

Unterdessen wollen die USA ihre früheren Ortskräfte schneller als bisher außer Landes bringen. Für Dolmetscher und andere afghanische Mitarbeiter, die bei einer Machtübernahme durch die Taliban Repressalien zu befürchten hätten, solle es künftig täglich Flüge geben, die sie außer Landes bringen, sagte der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, am Donnerstag in Washington.

Zugleich werden rund 3.000 zusätzliche Soldatinnen und Soldaten zeitweise nach Afghanistan verlegt, um die Sicherheit auf dem Flughafen Kabul zu verstärken. Es gehe darum, die Reduzierung des US-Botschaftspersonals zu unterstützen, erklärte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, am Donnerstag. Diese könne auch die Sicherung von Konvois von und zum Flughafen umfassen, sagte er.

Auch Briten schicken Soldaten

Auch Großbritannien entsendet 600 Soldaten nach Kabul, die bei der Rückführung von Briten aus dem Land helfen sollen. Die zusätzlichen militärischen Kräfte würden in den kommenden Tagen in Kabul ankommen, teilte das britische Verteidigungsministerium am Donnerstagabend mit.

EU droht mit internationaler „Isolation“

Unterdessen drohte die Europäische Union den radikal-islamischen Kämpfern für den Fall einer gewaltsamen Machtergreifung mit einer internationalen „Isolation“. Die Taliban sollten die grundlegenden Diskussionen mit der afghanischen Regierung über die Zukunft des Landes wieder aufnehmen und sofort mit ihren Angriffen aufhören, forderte am Donnerstagabend in Brüssel der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.

Sollten die Taliban mit Gewalt die Macht am Hindukusch ergreifen und ein islamisches Emirat ausrufen, dann würden sie von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt, erklärte Borrell. „Sie werden Isolation erleiden und keine internationale Unterstützung bekommen.“ Eine ähnliche Drohung hatten zuvor die USA ausgesprochen.

Frankreich und Dänemark setzen Abschiebungen aus

Nach Deutschland und den Niederlanden setzten am Donnerstag auch Frankreich und Dänemark Abschiebungen nach Afghanistan offiziell aus. Bereits seit Anfang Juli habe es keine Rückführungen mehr in den Krisenstaat gegeben, teilte das Innenministerium in Paris mit. Frankreich beobachte die Situation gemeinsam mit seinen europäischen Partnern genau.

Das dänische Migrationsministerium erklärte, der Bitte Afghanistans nachzukommen und die Abschiebung von Asylwerbern bis 8. Oktober auszusetzen. Dänemark hatte noch unlängst gemeinsam mit Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Griechenland die EU in einem Brief zu einer Fortsetzung der Abschiebungen nach Afghanistan gedrängt – trotz des Vormarsches der Taliban.

Kogler: Abschiebungen „faktisch nicht möglich“

In Österreich will unterdessen das ÖVP-geführte Innenministerium in Wien weiter an Rückführungen festhalten. Die Grünen stellen sich dagegen. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) erklärte laut Aussendung gegenüber Oe24.tv, dass Abschiebungen „faktisch nicht möglich“ seien, „weil es für die Flieger gar keine Landeerlaubnis in Afghanistan gibt“.

Kogler sagte: „Wie es in Afghanistan zugeht, ist richtig schlimm. Das hat auch Konsequenzen. Auch wenn die eine oder andere Stimme aus dem Innenministerium anderes sagt: Abschiebungen gibt es derzeit nicht nach Afghanistan.“ Rechtlich würden Einzelfallprüfungen dazu führen, dass das „nicht mehr infrage kommt“. Abschiebeflüge seien auch in den nächsten Wochen „so gut wie unvorstellbar“, so der Vizekanzler.