Soldat der afghnischen Spezialheinheit im Militärfahrzeug in Kandahar
Reuters/Danish Siddiqui
„Vollkommen erobert“

Taliban übernehmen Kandahar

Kandahar, die zweitgrößte Stadt Afghanistans, ist an die militant-islamistischen Taliban gefallen. Die wichtigsten Regierungseinrichtungen der rund 600.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden, im Süden des Landes gelegenen Stadt seien in den Händen der Islamisten, bestätigten zwei Parlamentarier und ein Provinzrat am Freitag.

„Kandahar ist vollkommen erobert“, hatte zuvor auch ein Taliban-Sprecher via Twitter mitgeteilt. „Die Mudschaheddin haben den Märtyrerplatz in der Stadt erreicht.“ Die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz ist das wirtschaftliche Zentrum des Südens und war der Geburtsort der Taliban-Bewegung in den 1990er Jahren. Kandahar diente zudem als Hauptstadt der Islamisten während ihrer Herrschaft zwischen 1996 und 2001.

Mehr als drei Wochen lang sei es innerhalb der Stadt zu schweren Zusammenstößen zwischen der Regierung und den Taliban in Kandahar gekommen, bevor die Sicherheitskräfte die Stadt evakuiert hätten, sagte der Parlamentarier Gul Ahmad Kamin, der die Provinz im Parlament vertritt. Die Regierungstruppen hätten schließlich die wichtigsten Regierungsbehörden verlassen – laut dpa kontrollierten diese aber weiterhin den Flughafen von Kandahar, der während des 20-jährigen Einsatzes der US-Streitkräfte der zweitgrößte Stützpunkt in Afghanistan war.

Afghanistan: Taliban besetzen Kandahar

Die Taliban haben mittlerweile Kandahar, die zweitgrößte Stadt des Landes, erobert. Die USA verlegen nun 3.000 Soldaten in die Hauptstadt Kabul, um den Flughafen zu sichern und ihre Botschaft zu evakuieren. 400.000 Menschen sind auf der Flucht.

16 Provinzhauptstädte in Hand der Taliban

Mit dem Zusammenbruch der Stadt Kandahar und der am Freitag ebenfalls gemeldeten Eroberung von Laschkargah und Firus Koh haben die Taliban nun innerhalb einer Woche 16 Hauptstädte der 34 Provinzen des Landes überrannt. Laschkargah in der Provinz Helmand sei in die Hände der Islamisten gefallen, sagte ein Vertreter der afghanischen Sicherheitsbehörden Freitagfrüh laut AFP. Er bestätigte damit entsprechende Angaben der Taliban. Die Armee und Regierungsvertreter hätten die seit Wochen schwer umkämpfte 200.000-Einwohner-Stadt verlassen.

Ebenfalls Freitagfrüh wurde die Eroberung von Firuzkoh und damit der Hauptstadt der im Westen Afghanistans gelegenen Provinz Ghor bestätigt. Die Stadt mit geschätzt 130.000 Einwohnerinnen und Einwohnern sei ohne jeglichen Widerstand von den Islamisten übernommen worden, sagte der Provinzrat Fasel-ul Hak Ehsan. Die Sicherheitskräfte und mehrere Regierungsvertreter hätten sich in eine Militärbasis in der Stadt zurückgezogen. Wenig später sei dpa-Angaben zufolge dann auch die nur rund 70 Kilometer südlich der Hauptstadt Kabul gelegene Provinzhauptstadt Pul-i Alam gefallen.

Taliban-Kämpfer in der Stadt Ghazni
AP/Gulabuddin Amiri
Taliban-Kämpfer in der Stadt Ghazni

Bereits am Donnerstag hatten die Taliban die drittgrößte Stadt Herat und die strategisch wichtige Stadt Ghazni eingenommen. Von den wichtigen Städten hält die Regierung nur noch die Hauptstadt Kabul, Mazar-i-Sharif im Norden und Jalalabad im Osten. Die Taliban kontrollieren inzwischen etwa zwei Drittel Afghanistans. Von US-Geheimdiensten wird nicht ausgeschlossen, dass sie Kabul binnen 30 Tagen isolieren und binnen 90 Tagen übernehmen könnten.

3.000 US-Soldaten sollen Ausreisende sichern

Angesichts des Vormarsches werden die US-Streitkräfte sofort rund 3.000 zusätzliche Soldaten an den Flughafen in Kabul verlegen. Damit solle eine geordnete Reduzierung des US-Botschaftspersonals unterstützt werden, hieß es von einem Sprecher des US-Verteidigungsministeriums. Zudem würden die USA bis zu 4.000 weitere Soldatinnen und Soldaten nach Kuwait und 1.000 nach Katar verlegen – falls Verstärkung gebraucht würde.

Videograb zeigt Kämpfer der Taliban auf einem Auto stehend in der afghanischen Stadt Herat
APA/AFPTV
Seit Donnerstag ist auch Afghanistans drittgrößte Stadt Herat in der Hand der Taliban

Der Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan solle aber bis 31. August abgeschlossen werden, so der Sprecher am Donnerstag (Ortszeit). Auch Großbritannien will rund 600 zusätzliche Soldaten schicken, um bei der Rückführung von Briten aus Afghanistan zu helfen. Zuletzt hatte US-Präsident Joe Biden am Donnerstag im Weißen Haus erklärt, die Afghanen müssten nun „selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen“.

„Steuern auf Bürgerkrieg zu“

Biden müsse den afghanischen Kräften „sofort“ mehr Hilfe zusagen, darunter auch anhaltende Unterstützung aus der Luft nach dem Abzug der US-Truppen am 31. August, forderte indes der Minderheitsführer der Republikaner im US-Senat, Mitch McConnell. Falls Biden seinen Kurs „nicht schnell ändert, sind die Taliban auf dem Weg dazu, sich einen bedeutenden militärischen Sieg zu sichern“, so McConnell: „Wenn das nicht geschieht, könnten al-Kaida und die Taliban den 20. Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September damit feiern, unsere Botschaft in Kabul niederzubrennen“.

Afghanistan steht nach Einschätzung des britischen Verteidigungsministers Ben Wallace vor einem Bürgerkrieg. Der Westen müsse verstehen, dass die Taliban keine Einheit seien, sondern ein Sammelbecken für zahlreiche, miteinander rivalisierende Interessen, sagt Verteidigungsminister Ben Wallace der BBC. „Und ich denke, wir steuern auf einen Bürgerkrieg zu.“

Kritik am Abzug der USA und ihrer Alliierten aus Afghanistan kommt auch vom einflussreichen britischen Außenpolitiker Tom Tugendhat. „Mit der Entscheidung zum Rückzug wurde unseren Partnern der Teppich unter den Füßen weggezogen“, twitterte Tugendhat, der Chef des Auswärtiges Ausschusses im Parlament, in der Nacht auf Freitag. „Nach 20 Jahren, Milliarden Dollar und Tausenden Menschenleben wirkt das Engagement in Afghanistan wie eine Affäre.“ Laut Tugendhat habe man sich bisher „für die Niederlage“ entschieden, aber man könne das Blatt noch wenden – dafür müsse man aber in „unsere Verbündeten und Partner investieren“.

Grafik zum Vormarsch der Taliban in Afghanistan
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: longwarjournal.org/Guardian

EU droht mit internationaler „Isolation“

Die Europäische Union drohte den radikalislamischen Kämpfern für den Fall einer gewaltsamen Machtergreifung mit einer internationalen „Isolation“. Die Taliban sollten die grundlegenden Diskussionen mit der afghanischen Regierung über die Zukunft des Landes wiederaufnehmen und sofort mit ihren Angriffen aufhören, forderte am Donnerstagabend in Brüssel der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.

Sollten die Taliban mit Gewalt die Macht am Hindukusch ergreifen und ein islamisches Emirat ausrufen, würden sie von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt, erklärte Borrell. „Sie werden Isolation erleiden und keine internationale Unterstützung bekommen.“ Eine ähnliche Drohung hatten zuvor die USA ausgesprochen.

Frankreich und Dänemark setzen Abschiebungen aus

Nach Deutschland und den Niederlanden setzten am Donnerstag auch Frankreich und Dänemark Abschiebungen nach Afghanistan offiziell aus. Bereits seit Anfang Juli habe es keine Rückführungen mehr in den Krisenstaat gegeben, teilte das Innenministerium in Paris mit. Frankreich beobachte die Situation gemeinsam mit seinen europäischen Partnern genau.

Das dänische Migrationsministerium erklärte, der Bitte Afghanistans nachzukommen und die Abschiebung von Asylwerbern bis 8. Oktober auszusetzen. Dänemark hatte noch unlängst gemeinsam mit Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Griechenland die EU in einem Brief zu einer Fortsetzung der Abschiebungen nach Afghanistan gedrängt – trotz des Vormarsches der Taliban.

Kogler: Abschiebungen „faktisch nicht möglich“

In Österreich will unterdessen das ÖVP-geführte Innenministerium in Wien weiter an Rückführungen festhalten. Die Grünen stellen sich dagegen. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) erklärte laut Aussendung gegenüber Oe24.tv, dass Abschiebungen „faktisch nicht möglich“ seien, „weil es für die Flieger gar keine Landeerlaubnis in Afghanistan gibt“.

Kogler sagte: „Wie es in Afghanistan zugeht, ist richtig schlimm. Das hat auch Konsequenzen. Auch wenn die eine oder andere Stimme aus dem Innenministerium anderes sagt: Abschiebungen gibt es derzeit nicht nach Afghanistan.“ Rechtlich würden Einzelfallprüfungen dazu führen, dass das „nicht mehr infrage kommt“. Abschiebeflüge seien auch in den nächsten Wochen „so gut wie unvorstellbar“, so der Vizekanzler.

Rotes Kreuz fordert Ende von Abschiebungen

Der Präsident des österreichischen Roten Kreuzes, Gerald Schöpfer, fordert das Ende der Abschiebungen nach Afghanistan. „Rotkreuz-Vertreter vor Ort und Vertreter des Roten Halbmondes sagen übereinstimmend, das ist die Hölle auf Erden“, sagte Schöpfer im Ö1-Morgenjournal. Die Ankündigung mehrerer EU-Staaten, Abschiebungen wegen des Bürgerkrieges auszusetzen, sei die richtige Entscheidung. Auch die österreichische Regierung solle ihre Haltung überdenken.

Hilfsorganisation wollen in Afghanistan bleiben

In Afghanistan tätige Hilfsorganisationen stellen sich auf eine humanitäre Krise ein. Trotz der Gefahr wollen viele Helfer weiter im Land bleiben. „Ich werde hierbleiben, solange das in irgendeiner Form möglich ist“, sagte Stefan Recker von Caritas International Kabul im Deutschlandfunk. Er wolle auch ein Beispiel geben, dass nicht alle Ausländer weggingen. Die Afghanistan-Direktorin der norwegischen Flüchtlingshilfe Norwegian Refugee Council (NRC), Tracey Van Heerden, erklärte, die Eskalation des Konflikts mache zwar die Arbeit von Hilfsorganisationen schwieriger und gefährlicher. „Aber wir sind entschlossen zu bleiben und zu liefern.“

Die eskalierende Gewalt zwinge Tausende Menschen, sich an sicherere Orte zu flüchten, erklärte der NRC. 390.000 Menschen seien nach UNO-Schätzungen seit Jahresbeginn vertrieben worden, doch die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher liegen. „Verängstigte Familien sind in den vergangenen Tagen nach Kabul geflohen. Lager sind überfüllt, und Kinder schlafen draußen im Freien. Familien streiten ums Essen“, sagte Van Heerden. Der NRC befürchte, dass sich das „in einem beispiellosen Tempo im ganzen Land wiederholt“.