Briefwahlkuberts werden sortiert
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Deutschland

Die Lücken und Tücken der Briefwahl

Wenn am Montag in ganz Deutschland Kuverts in Kuverts gesteckt werden, ist das wohl inoffiziell so etwas wie der Start der Bundestagswahl. Immerhin ist es jener Tag, an dem die ersten Briefwahlunterlagen verschickt werden. Seit Jahren ist ein steigender Anteil an Briefwählern und -wählerinnen festzustellen, diesmal dürften es noch einmal mehr werden. Doch ganz so einfach ist die Briefwahl nicht – zumindest nicht für alle.

Als in Deutschland 1957 erstmals auch per Brief gewählt werden durfte, nutzten das gerade einmal rund fünf Prozent der Wahlberechtigten. Bei der diesjährigen Bundestagswahl wird erwartet, dass weit mehr als ein Drittel der Deutschen ihre Stimme nicht in die Urne, sondern in den Briefkasten werfen werden. Das wäre in der Tat ein neuer Höchstwert. Zum Vergleich: 2017 waren es 28,6 Prozent – damals ein neuer Rekord.

„Der Trend zur Briefwahl wird sich wie in den vergangenen Jahren fortsetzen und durch die Coronavirus-Pandemie noch einen zusätzlichen Schub erhalten“, sagte Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen. Während die Briefwahl für die Wählerinnen und Wähler wenig Änderung mit sich bringt, hat sie auf die Politik und Meinungsforschungsinstitute erhebliche Auswirkungen.

SPD-Politiker Olaf Scholz
Reuters/Kay Nietfeld
Bei der Bundestagswahl wird ein neuer Rekord an Briefwählern erwartet – wie viele davon für den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz stimmen, wird sich erst Ende September zeigen

Wen werden Sie gewählt haben werden?

„Es ist eine interessante Frage, wie die Meinungsforscher mit diesem riesigen Anteil von Briefwählern umgehen“, konstatierte der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“). Schließlich sei die klassische Frage, wen die Wahlberechtigten wählen würden, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre.

Vor dem Hintergrund, dass in zwei bis drei Wochen aber knapp die Hälfte der Befragten bereits abgestimmt haben wird, sei die Sinnhaftigkeit dieser Frage selbst infrage zu stellen, so die „SZ“. Auch Brettschneider sieht hier bei den Umfrageinstituten „ein gewisses Problem – sowohl beim Erfassen als auch beim Publizieren der Erhebungen“.

Was das Erfassen betrifft, meint auch der Gründer des deutschen Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Gründer, es sei „irre“, Briefwähler zu fragen, was sie wählen werden, wenn sie bereits wählen konnten. Daher frage man direkt: „Was haben Sie gewählt?“

Zwischen „unzulässig“ und „irre“

Zwar mache die zunehmende Zahl an Briefwählern die Hochrechnungen am Wahltag selbst einfacher, davor gibt es aber ein Problem: Rechtlich gesehen dürfen Briefwählerbefragungen erst am Wahlabend selbst veröffentlicht werden. Einige Institute verstecken die Briefwahlfrage daher in der Sonntagsfrage – doch auch das sei eigentlich nicht erlaubt, so die „SZ“.

Während Brettschneider hier von einem „rechtlichen Graubereich“ spricht, bringt es die „SZ“ recht unverblümt auf den Punkt: „Der Umgang der Umfrageinstitute mit den Briefwähler-Massen scheint nach uneinheitlichem Expertenurteil also irgendwo zwischen ‚irre‘ und ‚unzulässig‘ zu changieren. Das könnte noch lustig werden in den anstehenden Wahlwochen.“

Versand der Briefwahlunterlagen als Wahlkampfauftakt

Wahlwochen dürfte auch das Stichwort für die Politik sein. Handelte es sich früher lediglich um einen Tag, an dem gewählt wurde, erstreckt sich dieser Zeitraum durch die Briefwahl nun auf rund sechs Wochen. Meinungsforscher Jung sieht dadurch „erhebliche“ Auswirkungen der Briefwahl auf den Wahlkampf: „Wir werden einen zweigeteilten Wahlkampf erleben“, sagt Jung voraus.

Tatsächlich haben sich die Parteien längst darauf eingestellt, dass sie ihre Ressourcen anders einteilen müssen als das bei klassischen Wahlkämpfen üblich war. Spätestens die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt in diesem Jahr schreckten alle auf. Überall verdoppelte sich der Anteil der Briefwahl-Stimmen – in Rheinland-Pfalz sogar auf 66 Prozent.

Die heiße Phase beginnt daher nicht mehr zwei Wochen vor dem Wahltermin, sondern eben bereits mit dem Versand der Briefwahlunterlagen. Schließlich wollen die Parteien auch diejenigen erreichen, die früh ihr Kreuz zu Hause machen.

CDU-Politiker Armin Laschet
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Für die CDU mit Kanzlerkandidat Armin Laschet ist der Start der Briefwahl gleichzeitig der Auftakt für die Wahlkampagne

„Jeder Tag ist Wahl“

„Bei der anstehenden Bundestagswahl werden wir deshalb schon ab dem ersten Tag der Briefwahl um jede Stimme kämpfen und Briefwählerinnen und Briefwähler sowie Briefwahl-Interessierte mit unserer Kampagne gezielt ansprechen“, sagte etwa SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil.

Schon Anfang Juli hatte auch CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak angekündigt, dass die Union ihre Kampagne mit dem Start der Briefwahl hochfahren wird. „Jeder Tag ist für uns dann Wahl“, betonte Ziemiak.

In der CDU wird darauf verwiesen, dass man im Prinzip zwei verschiedenen Kampagnen brauche. In der ersten Phase gehe es darum, die schon festgelegten Wähler zu motivieren, ihre Stimme abzugeben. „Dagegen muss man in den letzten Tagen um die Wechselwähler kämpfen“, heißt es bei den CDU-Strategen.

Grünen-Politikerin Annalena Baerbock
Reuters/Stefanie Loos
Unter den Wählern und Wählerinnen, die ihr Kreuz bei CDU, CSU oder den Grünen machen würden, wenn schon am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre, sind besonders viele Briefwähler – die Grünen rund um Kandidatin Annalena Baerbock dürften also von der Briefwahl profitieren

Westen, Ältere, Frauen

Während früher die Faustregel gegolten habe, dass Wähler von Union und FDP überproportional unter den Briefwählern zu finden waren, habe sich das durch die steigende Zahl an Frühwählern weitgehend angeglichen – auch die Grünen sind nun vorne mit dabei. Allerdings sei es noch immer so, dass die Briefwahl überdurchschnittlich oft von älteren Menschen genutzt werde, so Jung – und unter diesen seien Wähler der Union häufiger zu finden.

Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zeigt: Am niedrigsten ist die Quote der überzeugten Briefwähler bei den Anhängern von AfD und Linkspartei. Zudem ist die Briefwahl im Westen beliebter als im Osten. Auch entscheiden sich Frauen etwas häufiger für die Stimmabgabe per Brief als Männer. Womöglich werden auch einige der Wähler, die jetzt noch unschlüssig sind, ihre Entscheidung für oder gegen die Briefwahl vom Pandemiegeschehen in den letzten Wochen vor der Bundestagswahl abhängig machen.

Ruf nach Änderungen

Der deutsche Rechtswissenschaftler Alexander Thiele äußert im Vorfeld Kritik an dieser Art des Wählens: „Man muss sich schon fragen, ob der Gleichheitsgrundsatz der Bundestagswahl noch gegeben ist, wenn so viele Bürger bis zu sechs Wochen vor den anderen wählen. Denn in der Zwischenzeit kann viel passieren.“ Er verweist auf die sich schnell ändernden Umfragewerte, die am 26. September wegen möglicher Skandale eine ganz andere Stimmung widerspiegeln könnten als etwa am 16. August.

Thiele fordert konkrete Änderungen. „Zumindest sollte man die Reform von 2008 zurückdrehen, ab der man nicht einmal mehr eine Begründung für die Briefwahl angeben muss.“ Und weiter: Die Briefwahl müsse auf zwei Wochen begrenzt werden.

Ein ganz anderes Problem sieht der Sicherheitsexperte Jörn Müller-Quade vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Denn mit der Briefwahl wächst aus seiner Sicht auch die Anfälligkeit für Manipulationen. Es gebe keine Möglichkeit für Briefwähler, nachzuprüfen, ob ihre Stimmen wirklich ausgezählt würden. „Der Prozess müsste sehr viel transparenter werden, wenn die Briefwahl langsam die vorherrschende Form der Stimmabgabe wird“, forderte er.

Bundeswahlleiter: Briefwahl ist sicher

Der Bundeswahlleiter Georg Thiel weist die Bedenken zurück: Seit Einführung der Briefwahl 1957 habe es keine Hinweise auf Manipulationen in einem Ausmaß gegeben, dass sie das Wahlergebnis beeinflussten, sagte er kürzlich. Eine emotionale Debatte wie in den USA, wo Trump-Anhänger Wahlmanipulationen durch Briefwähler suggerierten, sei nicht zu erwarten.

Und weiter: „Diese Stimmzettel werden genauso öffentlich ausgezählt wie alle anderen.“ Die Verdoppelung des Briefwähleranteils bei den Landtagswahlen habe das Vertrauen der Bürger in die Briefwahl bestätigt. „Der Gesetzgeber hat immer wieder nachgeschärft, wenn es Hinweise auf mögliche Missstände gab. Etwa bei der Versicherung, dass der Wahlberechtigte auch selbst wählt.“

Wenn Manipulationsversuche in den sozialen Netzwerken entdeckt würden, „reagieren wir sofort mit entsprechender Aufklärung. So läuft eine Informationskampagne über alle Details der Briefwahl“. Manipulationen bei der Ermittlung der Wahlergebnisse seien „nie ausgeschlossen, aber die fallen auf“, sagte Thiel.