Talibankämpfer in einem Militärfahrzeug der afghanischen Armee in Kandahar
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Taliban-Offensive in Afghanistan

Mehr Länder ziehen Personal aus Kabul ab

Die Geschwindigkeit, mit der neue Eroberungen der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan gemeldet werden, nimmt von Tag zu Tag zu. Mehrere Provinzhauptstädte und die zweitgrößte Stadt des Landes Kandahar fielen den Islamisten zuletzt zu. In Reaktion darauf wollen immer mehr Länder Diplomatien und Personal abziehen, zuletzt auch Deutschland. Bei einem NATO-Treffen soll alles koordiniert werden.

Generelles Thema beim Treffen in Brüssel ist die Sicherheitslage im Land – konkret sollen aber Planungen für Evakuierungsmaßnahmen besprochen werden. Das westliche Militärbündnis hat seinen Einsatz in Afghanistan nach fast zwei Jahrzehnten zwar beendet und die meisten Truppen aus dem Land abgezogen. Die einberufene Dringlichkeitssitzung dient aber noch als Forum, um dort nationale Maßnahmen zu koordinieren.

Die US-Streitkräfte kündigten am Donnerstag an, rund 3.000 zusätzliche Soldaten zum Flughafen in Kabul zu entsenden – sie sollen die Evakuierungen absichern. Zudem würden die USA bis zu 4.000 weitere Soldatinnen und Soldaten nach Kuwait und 1.000 nach Katar verlegen – falls Verstärkung gebraucht würde. Auch Großbritannien will rund 600 zusätzliche Soldaten schicken, um bei der Rückführung von Briten aus Afghanistan zu helfen.

Berlin reduziert Personal auf „absolutes Minimum“

Die deutsche Bundesregierung beschloss indes, das Personal der deutschen Botschaft in Kabul auf das „absolute Minimum“ zu reduzieren. Ortskräfte und Botschaftsangehörige sollen möglichst schnell ausgeflogen werden. Dazu werde ein Unterstützungsteam in die afghanische Hauptstadt geschickt. Auch Dänemark hat entsprechende Maßnahmen angekündigt, Norwegen ebenso, zudem sollen deren Botschaften in Kabul geschlossen werden.

Frankreichs Außenministerium rief Staatsangehörige auf, Afghanistan „so rasch wie möglich zu verlassen“, auch die Schweiz will drei Staatsbürger ausfliegen lassen. Nach Informationen der „New York Times“ haben US-Unterhändler Vertreter der Taliban gebeten, die US-Botschaft in Kabul nicht anzugreifen, falls sie die Regierungsgeschäfte übernehmen und jemals ausländische Hilfe bekommen wollen.

Derzeit zwei Österreicher reiseregistriert

Das Außenministerium in Wien weiß aktuell von insgesamt zwei österreichischen Staatsbürgern, die sich derzeit in Afghanistan aufhalten. Das teilte eine Ministeriumssprecherin am Freitagabend mit. Bei den beiden Österreichern handle es sich um reiseregistrierte Personen, und man versuche, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Auslandsösterreicher, also längerfristig dort lebende Österreicher, halten sich nach Wissen des Außenministeriums keine mehr in Afghanistan auf.

Auf seiner Website rät das Außenministerium in Wien den im Land lebenden „Auslandsösterreichern und Österreichern, die sich aus anderen Gründen in Afghanistan aufhalten“ an, „dringend“ das Land zu verlassen. „In Not geratenen Österreichern kann, solange sie sich auf afghanischem Staatsgebiet befinden, keine unmittelbare konsularische Hilfestellung geleistet werden“, heißt es weiter. Österreich unterhält in Kabul keine Botschaft. Der Amtsbereich Afghanistan wird von der pakistanischen Hauptstadt Islamabad aus betreut.

Grafik zum Vormarsch der Taliban in Afghanistan
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: longwarjournal.org/Guardian

Kämpfer für Angriff auf Kabul versammelt?

Unterdessen setzen die Taliban ihren Feldzug fort. Neben Kandahar und weiteren Städten übernahmen die Islamisten am Freitag die Kontrolle in Pul-i Alam – die Stadt liegt nur rund 70 Kilometer von der Hauptstadt Kabul. Die Islamisten hätten die wichtigsten Regierungseinrichtungen der Stadt übernommen und den Provinzgouverneur sowie den Geheimdienstchef gefangen genommen, sagten ein Provinzrat und ein Parlamentarier laut dpa am Freitag.

Taliban erobern weitere Gebiete

In Afghanistan sind bereits 18 der 34 Provinzhauptstädte in der Hand der militant-islamistischen Taliban. Nun sind sie nur noch 70 Kilometer von der Hauptstadt Kabul entfernt.

Pul-i Alam mit seinen geschätzt 120.000 Einwohnern ist die Hauptstadt der Provinz Logar im Osten des Landes. Aus Sicherheitskreisen heißt es seit Längerem, dass in der Provinz Logar Taliban-Kämpfer für einen Angriff auf Kabul versammelt werden. Die Taliban kontrollieren fünf der sieben Bezirke, die zwei näher an der Provinz Kabul liegenden Choschai und Mohammed Agha sind umkämpft. Von Pul-i Alam sind es mit dem Auto nur rund eineinhalb Stunden nach Kabul.

Pul-i Alam ist nur eine von mehreren zuletzt eingenommenen Provinzhauptstädten. In der Nacht auf Freitag (Ortszeit) war auch Afghanistans zweitgrößte Stadt Kandahar an die Taliban gefallen, Freitagfrüh die wichtige Stadt Laschkargah in Kandahars Nachbarprovinz Helmand und wenig später die Provinzhauptstädte Tirinkot sowie Kalat. Damit haben die Taliban binnen einer Woche 18 der 34 Provinzhauptstädte eingenommen.

„Kandahar ist vollkommen erobert“

In Kandahar ist Agenturberichten zufolge nur noch der Flughafen, der während des 20-jährigen Einsatzes der US-Streitkräfte der zweitgrößte Stützpunkt in Afghanistan war, unter Kontrolle der Regierungstruppen. Die wichtigsten Regierungseinrichtungen der rund 600.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden, im Süden des Landes gelegenen Stadt seien in der Hand der Islamisten, bestätigten zwei Parlamentarier und ein Provinzrat am Freitag.

„Kandahar ist vollkommen erobert“, hatte zuvor auch ein Taliban-Sprecher via Twitter mitgeteilt. „Die Mudschaheddin haben den Märtyrerplatz in der Stadt erreicht.“ Die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz ist das wirtschaftliche Zentrum des Südens und war der Geburtsort der Taliban-Bewegung in den 1990er Jahren. Kandahar diente zudem als Hauptstadt der Islamisten während ihrer Herrschaft zwischen 1996 und 2001.

Taliban-Kämpfer in Kandahar
APA/AFP
Die Taliban haben die Kontrolle in Kandahar übernommen

Mehr als drei Wochen lang sei es innerhalb der Stadt zu schweren Zusammenstößen zwischen der Regierung und den Taliban in Kandahar gekommen, bevor die Sicherheitskräfte die Stadt evakuiert hätten, sagte der Parlamentarier Gul Ahmad Kamin, der die Provinz im Parlament vertritt. Die Regierungstruppen hätten schließlich die wichtigsten Regierungsbehörden verlassen – laut dpa kontrollierten diese aber weiterhin den Flughafen von Kandahar, der während des 20-jährigen Einsatzes der US-Streitkräfte der zweitgrößte Stützpunkt in Afghanistan war.

Auch Hauptstadt von Helmand gefallen

In den Händen der Taliban befindet sich seit Freitag mit Laschkargah auch die Provinzhauptstadt von Helmand. Ein Vertreter der afghanischen Sicherheitsbehörden bestätigte Freitagfrüh laut AFP entsprechende Angaben der Taliban. Die Armee und Regierungsvertreter hätten die seit Wochen schwer umkämpfte 200.000-Einwohner-Stadt verlassen.

Ebenfalls Freitagfrüh wurde die Eroberung von Firuzkoh und damit der Hauptstadt der im Westen Afghanistans gelegenen Provinz Ghor bestätigt. Die Stadt mit geschätzt 130.000 Einwohnerinnen und Einwohnern sei ohne jeglichen Widerstand von den Islamisten übernommen worden, sagte der Provinzrat Fasel-ul Hak Ehsan. Die Sicherheitskräfte und mehrere Regierungsvertreter hätten sich in eine Militärbasis in der Stadt zurückgezogen. Wenig später folgten ähnliche Meldungen aus Pul-i Alam sowie Tirinkot in der Provinz Urusgan und Kalat in der Provinz Sabul.

Taliban-Kämpfer in der Stadt Ghazni
AP/Gulabuddin Amiri
Taliban-Kämpfer in der Stadt Ghazni

In Tirinkot mit 116.000 Einwohnerinnen und Einwohnern hätten sich alle Sicherheitskräfte den Taliban ergeben, sagte ein Parlamentarier. Sie hätten ohnehin nirgendwohin fliehen können, weil alle Straßen aus der Stadt von den Islamisten blockiert worden seien. Auch die 44.000-Einwohner-Stadt Kalat in der Nachbarprovinz Sabul sei kampflos an die Islamisten übergeben worden, hieß es weiter. Bereits am Donnerstag hatten die Taliban die drittgrößte Stadt Herat und die strategisch wichtige Stadt Ghazni eingenommen. Von den wichtigen Städten hält die Regierung nur noch die Hauptstadt Kabul, Mazar-i-Sharif im Norden und Jalalabad im Osten.

Videograb zeigt Kämpfer der Taliban auf einem Auto stehend in der afghanischen Stadt Herat
APA/AFPTV
Seit Donnerstag ist auch Afghanistans drittgrößte Stadt Herat in der Hand der Taliban

„Steuern auf Bürgerkrieg zu“

US-Präsident Joe Biden müsse den afghanischen Kräften „sofort“ mehr Hilfe zusagen, darunter auch anhaltende Unterstützung aus der Luft nach dem Abzug der US-Truppen am 31. August, forderte der Minderheitsführer der Republikaner im US-Senat, Mitch McConnell. Falls Biden seinen Kurs „nicht schnell ändert, sind die Taliban auf dem Weg dazu, sich einen bedeutenden militärischen Sieg zu sichern“, so McConnell: „Wenn das nicht geschieht, könnten al-Kaida und die Taliban den 20. Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September damit feiern, unsere Botschaft in Kabul niederzubrennen“.

Afghanistan steht nach Einschätzung des britischen Verteidigungsministers Ben Wallace vor einem Bürgerkrieg. Der Westen müsse verstehen, dass die Taliban keine Einheit seien, sondern ein Sammelbecken für zahlreiche, miteinander rivalisierende Interessen, sagt Verteidigungsminister Ben Wallace der BBC. „Und ich denke, wir steuern auf einen Bürgerkrieg zu.“

Analyse der Afghanistan-Situation

ORF-Korrespondentin Inka Pieh und Johannes Marlovits aus der ZIB-Auslandsredaktion schätzen die Lage in Afghanistan ein.

Der britische Premierminister Boris Johnson warnte davor, sich von Afghanistan abzuwenden. Afghanistan dürfe „nicht erneut zur Brutstätte für Terror“ werden, sagte er am Freitag nach einem Krisentreffen seines Kabinetts vor Journalisten. Eine „militärische Lösung“ für Afghanistan schloss der Premier indes aus.

Innenministerium: „Keine Änderung“ bei Abschiebungen

Nachdem einige Staaten ankündigten, Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen, will das ÖVP-geführte Innenministerium in Wien weiter daran festhalten. Grundsätzlich habe sich an der Linie des Innenministeriums „keine Änderung ergeben“, hieß es APA-Angaben zufolge am Freitag aus dem Innenministerium. Ob das auch so bleibt, wenn Kabul in die Hände der Taliban fallen sollte, wie das von Beobachtern erwartet wird, bleibt offen.

„Die Sicherheitslage in Afghanistan wird gemeinsam mit dem Außenministerium laufend beobachtet und beurteilt“, zitierte die APA dazu in einer schriftlichen Stellungnahme des von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) geführten Ressorts. Österreich stehe zudem bereit, „Afghanistan im Rahmen konkreter Hilfsersuchen zu unterstützen, um seinen internationalen Verpflichtungen nachkommen zu können“.

Die Grünen stellem sich gegen die Fortsetzung von Abschiebungen. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) erklärte gegenüber Oe24.tv, dass Abschiebungen „faktisch nicht möglich“ seien, „weil es für die Flieger gar keine Landeerlaubnis in Afghanistan gibt“. Kogler sagte: „Wie es in Afghanistan zugeht, ist richtig schlimm. Das hat auch Konsequenzen. Auch wenn die eine oder andere Stimme aus dem Innenministerium anderes sagt: Abschiebungen gibt es derzeit nicht nach Afghanistan.“

Rotes Kreuz fordert Ende von Abschiebungen

Der Präsident des österreichischen Roten Kreuzes, Gerald Schöpfer, fordert das Ende der Abschiebungen nach Afghanistan. „Rotkreuz-Vertreter vor Ort und Vertreter des Roten Halbmondes sagen übereinstimmend, das ist die Hölle auf Erden“, sagte Schöpfer im Ö1-Morgenjournal. Die Ankündigung mehrerer EU-Staaten, Abschiebungen wegen des Bürgerkrieges auszusetzen, sei die richtige Entscheidung. Auch die österreichische Regierung solle ihre Haltung überdenken.

Hilfsorganisationen wollen in Afghanistan bleiben

In Afghanistan tätige Hilfsorganisationen stellen sich auf eine humanitäre Krise ein. Trotz der Gefahr wollen viele Helfer weiter im Land bleiben. „Ich werde hierbleiben, solange das in irgendeiner Form möglich ist“, sagte Stefan Recker von Caritas International Kabul im Deutschlandfunk. Er wolle auch ein Beispiel geben, dass nicht alle Ausländer weggingen.

Die Afghanistan-Direktorin der norwegischen Flüchtlingshilfe Norwegian Refugee Council (NRC), Tracey Van Heerden, erklärte, die Eskalation des Konflikts mache zwar die Arbeit von Hilfsorganisationen schwieriger und gefährlicher. „Aber wir sind entschlossen zu bleiben und zu liefern.“ Die eskalierende Gewalt zwinge Tausende Menschen, sich an sicherere Orte zu flüchten, erklärte der NRC. 390.000 Menschen seien nach UNO-Schätzungen seit Jahresbeginn vertrieben worden, doch die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher liegen.