Taliban in Herat
AP/Hamed Sarfarazi
Afghanistan

Mazar-e Sharif erobert, Kabul umzingelt

Die Taliban setzen ihre Offensive in Afghanistan ungehindert fort. Am Samstagabend nahmen die radikalen Islamisten offenbar kampflos Mazar-e Sharif ein, ehemals Standort der deutschen Bundeswehr. Auch die Lage in der Hauptstadt Kabul wird immer prekärer, die Taliban sind mittlerweile nahe an die Stadt gerückt.

Der örtliche Provinzrat und Bewohner von Mazar-e Sharif berichteten, dass die Stadt eingenommen wurde. Soldaten der Regierung seien in Richtung der Grenze zu Usbekistan geflohen. In einem Feldlager am Rande der Stadt hatte die deutsche Bundeswehr bis zu ihrem Abzug im Juni ihr Hauptquartier für den Afghanistan-Einsatz. Laut Zeugenberichten wurde die Flagge der Taliban auf der Blauen Moschee gehisst. Gefangene seien aus dem Zentralgefängnis der Stadt freigelassen worden.

Die Stadt galt als eine der letzten Hochburgen des Regierungslagers. Kabul ist nun angesichts des raschen Vorrückens der Taliban de facto die letzte Bastion der Regierungstruppen. Doch die Lage wird immer prekärer. International wird befürchtet, dass auch die Hauptstadt bald an die Islamisten fallen könnte. Immer mehr Länder trieben den Abzug ihres Personals rasch voran. Deutschland kündigte etwa an, Staatsbürger mit Hilfe der Bundeswehr aus dem Land holen zu wollen.

Taliban in Herat
AP/Hamed Sarfarazi
Die Taliban rücken immer weiter vor

US-Truppen sollen Evakuierungen sichern

In Kabul trafen auch erste US-Soldaten ein, die Evakuierungen sichern sollen. Bis Sonntag würden weitere Truppen eintreffen, sagte ein US-Vertreter. Statt der vorhergesehenen 3.000 Soldaten sollten nun „etwa 5.000 Soldaten“ eingesetzt werden, um die Ausreise des Botschaftspersonals und unzähliger ziviler Ortskräfte zu sichern, erklärte Biden. Biden warnte die Taliban davor, die Mission zu behindern. Angriffe auf US-Interessen würden rasch und energisch beantwortet.

Erneut verteidigte Biden seine Entscheidung, das US-Militär nach 20 Jahren komplett aus Afghanistan abzuziehen. Er sei der vierte US-Präsident, der die Verantwortung über diese Truppenpräsenz getragen habe, erklärte er. „Ich werde diesen Krieg nicht an einen fünften Präsidenten weitergeben.“

Afghanisches Militär kontrolliert Zufahrten nach Kabul
APTN
Das afghanische Militär bewacht nun die Zufahrten nach Kabul

In einer Mitteilung des Präsidenten hieß es: „Ein weiteres Jahr oder fünf weitere Jahre US-Militärpräsenz hätten keinen Unterschied gemacht, wenn das afghanische Militär sein eigenes Land nicht halten kann oder will.“ Eine endlose amerikanische Präsenz inmitten eines Bürgerkriegs in einem anderen Land sei für ihn nicht akzeptabel gewesen.

Präsident mit TV-Ansprache

Indes wandte sich am Samstag der afghanische Präsident Ashraf Ghani in einer TV-Ansprache an die Bevölkerung und versuchte zu beruhigen. Er sagte, dass er sich mit politischen Führern des Landes und internationalen Partnern beraten habe. Die Ergebnisse wolle er „bald“ mitteilen. Ghani versprach in seiner Ansprache, dass er die „Errungenschaften“ in den vergangenen 20 Jahren seit dem Sturz der Taliban durch die USA nach den Anschlägen vom 11. September nicht aufgeben werde.

„Wir haben Konsultationen innerhalb der Regierung mit Ältesten und politischen Führern, Vertretern der verschiedenen Ebenen der Gemeinschaft sowie unseren internationalen Verbündeten begonnen“, sagte er. „Bald werden wir Ihnen die Ergebnisse mitteilen“, fügte er hinzu, ohne näher darauf einzugehen.

Vormarsch als Bedrohung für Menschenrechte

Durch den Vormarsch der Taliban in Afghanistan werden die Rechte der Frauen im Land wieder stark eingeschränkt. Eine Afghanin hat die Situation vor Ort geschildert.

Erst kürzlich Besuch in eroberter Stadt

Der Präsident war erst am Mittwoch in das mittlerweile eingenommene Mazar-e Sharif geflogen, um die Verteidigungskräfte der Stadt zu versammeln, und traf sich mit mehreren Milizenführern, darunter Abdul Rashid Dostum und Mohammad Atta Nour, die Tausende von Kämpfern befehligen.

Atta Mohammed Nur führte den Fall der Provinzhauptstadt nun auf eine Verschwörung zurück. „Als Ergebnis einer großen, organisierten und feigen Verschwörung wurden leider alle Regierungseinrichtungen und Regierungskräfte an die Taliban übergeben“, schrieb der einst einflussreiche Politiker auf Facebook. Er selbst und Abul Raschid Dostum seien den Taliban entkommen.

Auch andernorts setzten die Taliban am Samstag ihren Vormarsch fort. Es habe Gefechte um Maidan Shar gegeben, Hauptstadt der rund 35 Kilometer von Kabul gelegenen Provinz Maidan Wardak, sagte die Abgeordnete Hamida Akbari der dpa.

Junger Mann verkauft Taliban-Fahnen
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Ein Bursch verkauft in Herat Taliban-Flaggen

Paris stellt weiter Visa aus

Paris will indes afghanischen Ortskräften und anderen gefährdeten Personengruppen unkompliziert Schutz in Frankreich gewähren. Als eines von nur drei Ländern stelle Frankreich weiterhin in Kabul Visa aus, hieß es am Freitagabend aus Elysee-Kreisen. Man unternehme „außerordentliche Anstrengungen“, um etwa afghanischen Künstlern, Journalisten und Vorkämpfern der Menschenrechte den Zugang nach Frankreich zu erleichtern.

Sorge vor Angriff auf Kabul

Die Taliban erobern in Afghanistan immer weitere Gebiete. Nun wächst die Sorge vor einem Angriff auf die Hauptstadt Kabul, in die viele Menschen geflohen sind. Strategisch wichtige Städte südlich von Kabul wurden bereits eingenommen.

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sagte, die Staatengemeinschaft müsse deutlich machen, dass „eine Machtergreifung durch militärische Gewalt ein aussichtsloses Unterfangen ist“. Das könne nur „zu einem längeren Bürgerkrieg oder der kompletten Isolation Afghanistans führen“. Die Vereinten Nationen hatten am Donnerstag vor einer humanitären Katastrophe gewarnt und die Nachbarn Afghanistans aufgerufen, ihre Grenzen für Flüchtlinge offen zu halten.

afghanische Flüchtliche an der pakistanischen Grenze
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Tausende Menschen flüchten vor den Taliban

Österreich unterstützt Friedensgespräche

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) forderte die Taliban auf, „ihr rücksichtsloses Vorgehen sofort zu stoppen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren“. In einer Stellungnahme ließ Schallenberg die islamistischen Milizen wissen: „Man kann nicht die eine Hand zum Dialog ausstrecken und mit der anderen weiter die Waffe umklammern.“ Österreich unterstütze die intensiven Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, die Friedensgespräche in Doha voranzubringen.

Die Taliban hatten in Afghanistan bereits von 1996 bis zu ihrem Sturz durch die US-geführten Truppen Ende 2001 geherrscht und eine sehr strenge Auslegung des islamischen Rechts durchgesetzt. Das wird nun erneut befürchtet. Es herrscht die Sorge, dass die in den vergangenen 20 Jahren mit westlicher Hilfe erzielten Fortschritte bei den Menschen- und Freiheitsrechten, insbesondere für Frauen, wieder verloren gehen und es zu einer Flüchtlingskrise kommt.