Die militant-islamistischen Taliban auf einem Platz der Großstadt Dschalalabad im Osten Afghanistans
Reuters/Social Media Website
USA evakuieren Botschaft

Taliban übernehmen auch Jalalabad

Die militant-islamistischen Taliban haben nun auch die Großstadt Jalalabad im Osten Afghanistans übernommen. Die Provinzhauptstadt von Nangarhar sei kampflos von den Islamisten erobert worden, bestätigten zwei Provinzräte und ein Bewohner am Sonntag. Nach Angaben vom afghanischen Innenministerium werde nun auch die Hauptstadt Kabul angegriffen. Die Entscheidung über einen Angriff auf die Hauptstadt Kabul sei noch nicht gefallen, hieß es kurz davor vonseiten der Taliban. Westliche Länder ziehen dennoch bereits eilig ihr Botschaftspersonal ab.

Die Islamisten seien um 6.00 Uhr (Ortszeit) nach Jalalabad, eine wirtschaftlich wichtige Stadt mit 280.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, eingedrungen, sagte ein Bewohner. Soldaten, die sie sähen, entwaffneten sie und schickten sie nach Hause, sagte der Bewohner weiter. Zwei Provinzräte erklärten, es habe keine Kämpfe gegeben. „Kämpfen wäre sinnlos gewesen.“

In sozialen Netzwerken geteilte Bilder zeigten rund ein Dutzend Taliban-Kämpfer im Büro des Provinzgouverneurs. Unbestätigten Berichten zufolge übernahmen die Islamisten auch weitere Bezirke in der Provinz Nangarhar. Es wäre damit nur eine Frage der Zeit, bis auch eine durch die Provinz verlaufende Hauptverbindung nach Pakistan über Land unter ihrer Kontrolle stünde.

Die militant-islamistischen Taliban auf einem Platz der Großstadt Dschalalabad im Osten Afghanistans
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Am Sonntag rückten die Taliban in Jalalabad ein

Auch Mazah-e Sharif in Hand von Taliban

Erst am Samstagabend hatten die Taliban die wichtige Stadt Mazar-e Sharif im Norden mehr oder wenig kampflos eingenommen. Der örtliche Provinzrat und Bewohner von Mazar-e Sharif berichteten, dass die Stadt eingenommen wurde. Soldaten der Regierung seien in Richtung der Grenze zu Usbekistan geflohen.

In einem Feldlager am Rande der Stadt hatte die deutsche Bundeswehr bis zu ihrem Abzug im Juni ihr Hauptquartier für den Afghanistan-Einsatz. Laut Zeugenberichten wurde die Flagge der Taliban auf der Blauen Moschee gehisst. Gefangene seien aus dem Zentralgefängnis der Stadt freigelassen worden.

Die Stadt galt als eine der letzten Hochburgen des Regierungslagers. Kabul ist nun angesichts des raschen Vorrückens der Taliban de facto die letzte Bastion der Regierungstruppen. Nach der Einnahme von Pul-i-Alam, der Hauptstadt der Provinz Logar, lagerten die Taliban bereits am Samstag nur noch rund 50 Kilometer von Kabul entfernt.

Jalalabad von Taliban eingenommen

Die Taliban haben nach der widerstandslosen Einnahme von Jalalabad alle großen Städte Afghanistans mit Ausnahme der Hauptstadt Kabul unter ihrer Kontrolle. Zahlreiche Sicherheitskräfte haben sich ihnen angeschlossen, um begnadigt zu werden.

Taliban: „Separate Entscheidung“ über Kabul

Die Islamisten wollen eigenen Angaben zufolge noch keine Entscheidung über einen militärischen Angriff getroffen haben. „Es wird später eine separate Entscheidung über Kabul geben“, sagte der Sprecher der Taliban, Sabiullah Mudschahid, am Sonntag zur dpa. Die Bevölkerung solle sich sicher sein, dass die Taliban keinen Kriegszustand in Kabul wollten.

International wird befürchtet, dass die Hauptstadt schon bald an die Islamisten fallen könnte. Immer mehr Länder trieben den Abzug ihres Personals rasch voran. „Oberstes Gebot ist jetzt die Sicherheit unseres Botschaftspersonals. Wir werden nicht riskieren, dass unsere Leute den Taliban in die Hände fallen“, sagte dazu der deutsche Außenminister Heiko Maas. Mittlerweile haben auch die USA mit der Evakuierung der Botschaft begonnen. Diese sei am Sonntag mit einer kleinen Gruppe gestartet worden, aber auch der Großteil des Personals sei zum Abzug bereit, teilten zwei US-Vertreter mit.

Biden will „Krieg nicht weitergeben“

In Kabul trafen am Samstag erste US-Soldaten ein, die Evakuierungen sichern sollen. Statt der zunächst vorhergesehenen 3.000 Soldaten sollen nun „etwa 5.000 Soldaten“ eingesetzt werden, um die Ausreise des Botschaftspersonals und unzähliger ziviler Ortskräfte zu sichern, erklärte US-Präsident Joe Biden. Dieser warnte die Taliban davor, die Mission zu behindern. Angriffe auf US-Interessen würden rasch und energisch beantwortet.

Erneut verteidigte Biden seine Entscheidung, das US-Militär nach 20 Jahren komplett aus Afghanistan abzuziehen. Er sei der vierte US-Präsident, der die Verantwortung über diese Truppenpräsenz getragen habe, erklärte er. „Ich werde diesen Krieg nicht an einen fünften Präsidenten weitergeben.“ In einer Mitteilung des Präsidenten hieß es: „Ein weiteres Jahr oder fünf weitere Jahre US-Militärpräsenz hätten keinen Unterschied gemacht, wenn das afghanische Militär sein eigenes Land nicht halten kann oder will.“ Eine endlose amerikanische Präsenz inmitten eines Bürgerkriegs in einem anderen Land sei für ihn nicht akzeptabel gewesen.

Junger Mann verkauft Taliban-Fahnen
AP/Hamed Sarfarazi
Ein Bursch verkauft in Herat Taliban-Flaggen

Präsident mit TV-Ansprache

Indes wandte sich am Samstag der afghanische Präsident Ashraf Ghani in einer TV-Ansprache an die Bevölkerung und versuchte zu beruhigen. Er sagte, dass er sich mit politischen Führern des Landes und internationalen Partnern beraten habe. Die Ergebnisse wolle er „bald“ mitteilen. Ghani versprach in seiner Ansprache, dass er die „Errungenschaften“ in den vergangenen 20 Jahren seit dem Sturz der Taliban durch die USA nach den Anschlägen vom 11. September nicht aufgeben werde.

„Wir haben Konsultationen innerhalb der Regierung mit Ältesten und politischen Führern, Vertretern der verschiedenen Ebenen der Gemeinschaft sowie unseren internationalen Verbündeten begonnen“, sagte er. „Bald werden wir Ihnen die Ergebnisse mitteilen“, fügte er hinzu, ohne näher darauf einzugehen.

Neuer Sicherheitsbeauftragter für Kabul

Ghani ernannte am Samstag zudem Sami Sadat, den jungen, ehemaligen Kommandeur des 215. Armeekorps zuständig für den Süden Afghanistans – der mittlerweile praktisch vollständig Taliban-Gebiet ist – zum neuen Sicherheitsbeauftragten für die Stadt Kabul. Es ist fraglich, ob der neue Kabul-Beauftragte Sadat noch dazu kommen wird, die Kräfte und Verteidigungslinien für die Hauptstadt zu verstärken.

Es ist nicht bekannt, wie viele der auf dem Papier rund 300.000 Mann starken Sicherheitskräfte – Armee und Polizei – mittlerweile den Dienst quittiert haben. Am Samstag hatte Ghani in einer Fernsehansprache gesagt, die Sicherheitskräfte „remobilisieren“ zu wollen.

Nach den jüngsten kampflosen Übergaben mehrerer Provinzhauptstädte ist zudem unklar, ob die Sicherheitskräfte in Kabul sich den Taliban widersetzen würden. Weiter ist offen, wie lange sich Ghani angesichts der brisanten Lage noch halten kann. Er hatte am Samstag gesagt, er wolle „bald“ einen Plan vorlegen, um weiteres Blutvergießen und Zerstörung zu verhindern. Auf Spekulationen über seinen Rücktritt war er nicht eingegangen.

Zehntausende nach Kabul geflohen

Laut dem Kabuler Experten Sajed Naser Mosawi scheinen Ghani die Optionen auszugehen: Der Staatschef scheine nicht bereit, „bis zum Ende zu kämpfen“. Vielmehr wolle Ghani offenbar „eine Art von Einigung“ erzielen oder gar kapitulieren. Die US-Regierung hatte der afghanischen Armee zuvor einen „Mangel an Widerstand“ vorgeworfen.

Die Taliban hatten während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 eine strenge Auslegung des islamischen Rechts in Afghanistan eingeführt. Mädchen waren von Bildung, Frauen vom Arbeitsleben ausgeschlossen. Straftaten wurden mit öffentlichen Auspeitschungen oder Hinrichtungen geahndet.

afghanische Flüchtliche an der pakistanischen Grenze
APA/AFP
Tausende Menschen flüchten vor den Taliban

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sprach zuletzt von „entsetzlichen“ Berichten über Menschenrechtsverletzungen in von den Taliban kontrollierten Gebieten. Zehntausende Menschen sind vor den Taliban nach Kabul geflohen. Die Staatengemeinschaft müsse laut Guterres nun deutlich machen, dass „eine Machtergreifung durch militärische Gewalt ein aussichtsloses Unterfangen ist“.

Nach UNO-Angaben sind seit Mai 250.000 Afghanen auf der Flucht, seit Anfang des Jahres damit 400.000. Intern Vertriebene sind in großer Zahl nach Kabul gereist und campieren dort etwa in Parks und auf öffentlichen Plätzen. Die militant-islamistischen Taliban setzen unterdessen ihren Eroberungszug fort und stehen schon wenige Kilometer vor den Toren Kabuls. Der deutsche Staatssekretär Niels Annen forderte unlängst, dass Europa dabei helfen müsse, „die fliehenden Menschen vor Ort in der Region, etwa in Tadschikistan, Iran oder Pakistan, aber auch in Afghanistan selbst zu versorgen. Dafür muss schnell Geld bereitstehen.“

Afghanistan-Konferenz geplant

Außenminister Alexander Schallenberg und Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP) verweisen indes auf eine geplante Afghanistan-Konferenz mit den zentralasiatischen Nachbarländern des Krisenlandes und einigen EU-Ländern, um möglichst zielsicher Hilfe vor Ort bieten zu können. Die Konferenz sei für Ende August oder Anfang September in virtueller Form geplant, wie eine Sprecherin Schallenbergs der APA mitteilte. Auf welcher Ebene die Länder vertreten sein werden, sei „noch in Ausarbeitung“.

Aus dem Innenministerium hieß es, Ziel der Konferenz sei, die Region zu stärken bzw. die unmittelbaren Nachbarstaaten Afghanistans. Darauf habe auch der gemeinsame Brief Österreichs mit Deutschland, Dänemark, Niederlande, Belgien und Griechenland abgezielt – „nicht nur auf Abschiebungen“. Die sechs EU-Länder hatten vor rund einer Woche in einem Brief an die EU-Kommission zu einer Fortsetzung der Abschiebungen nach Afghanistan gedrängt, um in erster Linie straffällig gewordene Afghanen aus der EU zu bringen. Deutschland, Dänemark und die Niederlande haben die Abschiebungen mittlerweile wegen der Lage in Afghanistan offiziell ausgesetzt. Die Länder seien auch Partner für die geplante Konferenz.