Taliban-Kämpfer auf einem Auto
AP/Hamed Sarfarazi
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Taliban rücken in Kabul ein

In Afghanistan haben die militant-islamistischen Taliban nach Angaben des afghanischen Innenministeriums den Angriff auf die Hauptstadt Kabul gestartet. Die Islamisten stießen von allen Seiten vor, teilte das Ministerium am Sonntag mit. Die Taliban sind nach eigenen Angaben noch nicht in die Stadt eingedrungen. Vielmehr verhandle man mit der afghanischen Regierung über eine friedliche Übergabe der Hauptstadt Kabul.

Die Taliban-Kämpfer seien angewiesen, noch nicht in die Hauptstadt Kabul vorzudringen. Sie sollten vielmehr an den Toren der Stadt Stellung beziehen, heißt es in einer am Sonntag veröffentlichten Erklärung der Islamisten. Die Erklärung wurde veröffentlicht, während in sozialen Netzwerken von bereits in die Außenbezirke der Stadt vorgedrungenen Taliban-Kämpfern die Rede war.

Die Islamisten hielten sich in Kalakan, Qarabagh und Paghman auf, sagten dazu drei Regierungsbeamte gegenüber der Nachrichtenagentur AP. Das Präsidialamt teilte auf Twitter mit, dass an verschiedenen Stellen rund um Kabul Schüsse zu hören seien. Die Sicherheitskräfte würden aber in Abstimmung mit internationalen Partnern die Kontrolle über die Stadt halten.

Bericht über verwaiste Regierungsbüros

Da die Hauptstadt Kabul eine große und dicht besiedelte Stadt sei, beabsichtigten die Taliban nicht, die Stadt mit Gewalt oder Krieg zu betreten. Die Taliban-Führung erklärte zudem, dass allen Menschen, die Kabul verlassen wollten, ein sicherer Abzug gewährt werde. Die Taliban-Kämpfer seien angewiesen, Gewaltanwendung zu vermeiden. Frauen sollten sich an geschützte Orte begeben. Man werde keine Rache üben, sagte ein Taliban-Sprecher. Allen, die der Regierung oder im Militär gedient hätten, werde vergeben. Zivilisten müssten das Land nicht aus Angst verlassen.

In Kabul spielten sich chaotische Szenen ab. Es kam zu einer Schießerei vor einer Bank, wie ein Bewohner der Stadt sagte. Viele Menschen versuchten, ihr Erspartes abzuheben, Lebensmittel zu kaufen und zu ihren Familien heimzukehren. Ein Soldat aus Kabul sagte, seine gesamte Einheit habe die Uniformen abgelegt. Regierungsmitarbeiter hätten ihre Büro fluchtartig verlassen.

Jalalabad gefallen

Nur wenige Stunden zuvor übernahmen die Taliban die Kontrolle über die Großstadt Jalalabad im Osten des Landes. Die Provinzhauptstadt von Nangarhar sei kampflos von den Islamisten erobert worden, bestätigten zwei Provinzräte und ein Bewohner am Sonntag. Die Islamisten seien um 6.00 Uhr (Ortszeit) nach Jalalabad, eine wirtschaftlich wichtige Stadt mit 280.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, eingedrungen, sagte ein Bewohner. Zwei Provinzräte erklärten, es habe keine Kämpfe gegeben. „Kämpfen wäre sinnlos gewesen.“

Die militant-islamistischen Taliban auf einem Platz der Großstadt Dschalalabad im Osten Afghanistans
Reuters/Social Media Website
Am Sonntag rückten die Taliban in Jalalabad ein

Erst am Samstagabend hatten die Taliban die wichtige Stadt Mazar-e Sharif im Norden mehr oder wenig kampflos eingenommen. Der örtliche Provinzrat und Bewohner von Mazar-e Sharif berichteten, dass die Stadt eingenommen wurde. Soldaten der Regierung seien in Richtung der Grenze zu Usbekistan geflohen. In einem Feldlager am Rande der Stadt hatte die deutsche Bundeswehr bis zu ihrem Abzug im Juni ihr Hauptquartier für den Afghanistan-Einsatz. Die Stadt galt als eine der letzten Hochburgen des Regierungslagers. Kabul ist nun angesichts des raschen Vorrückens der Taliban de facto die letzte Bastion der Regierungstruppen.

International wird schon seit Tagen befürchtet, dass die Hauptstadt schon bald an die Islamisten fallen könnte. Immer mehr Länder trieben den Abzug ihres Personals rasch voran. „Oberstes Gebot ist jetzt die Sicherheit unseres Botschaftspersonals. Wir werden nicht riskieren, dass unsere Leute den Taliban in die Hände fallen“, sagte dazu der deutsche Außenminister Heiko Maas. Am Sonntag haben auch die USA mit der Evakuierung der Botschaft begonnen und brachten Diplomaten per Hubschrauber zum Flughafen. Die USA schickten zur Sicherung der Evakuierungen rund 5.000 Soldaten nach Kabul.

Ein US-Helikopter kreist über der US-Botschaft in Kabul
AP/Rahmat Gul
Die USA bringen ihr Botschaftspersonal per Hubschrauber zum Flughafen von Kabul

Russland will seine Botschaft in Kabul vorerst nicht räumen. Eine Evakuierung sei nicht geplant, sagte der Afghanistan-Beauftragte des russischen Außenministeriums, Samir Kabulow, am Sonntag der Agentur Interfax. „Der Botschafter und unsere Mitarbeiter nehmen ihre Aufgaben in aller Ruhe wahr.“ Die jüngste Entwicklung im Land sei Kabulow zufolge als „trauriges Bild der Folgen der amerikanischen Präsenz“.

Biden will „Krieg nicht weitergeben“

US-Präsident Joe Biden verteidigte am Vortag erneut seine Entscheidung, das US-Militär nach 20 Jahren komplett aus Afghanistan abzuziehen. Er sei der vierte US-Präsident, der die Verantwortung über diese Truppenpräsenz getragen habe, sagte er. „Ich werde diesen Krieg nicht an einen fünften Präsidenten weitergeben.“ In einer Mitteilung des Präsidenten hieß es: „Ein weiteres Jahr oder fünf weitere Jahre US-Militärpräsenz hätten keinen Unterschied gemacht, wenn das afghanische Militär sein eigenes Land nicht halten kann oder will.“ Eine endlose amerikanische Präsenz inmitten eines Bürgerkriegs in einem anderen Land sei für ihn nicht akzeptabel gewesen.

Junger Mann verkauft Taliban-Fahnen
AP/Hamed Sarfarazi
Ein Bursch verkauft in Herat Taliban-Flaggen

Präsident mit TV-Ansprache

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani war in einer am Samstag übertragenen TV-Ansprache noch um Beruhigung der Bevölkerung bemüht. Er sagte, dass er sich mit politischen Führern des Landes und internationalen Partnern beraten habe. Die Ergebnisse wolle er „bald“ mitteilen. Ghani versprach in seiner Ansprache, dass er die „Errungenschaften“ in den vergangenen 20 Jahren seit dem Sturz der Taliban durch die USA nach den Anschlägen vom 11. September nicht aufgeben werde.

„Wir haben Konsultationen innerhalb der Regierung mit Ältesten und politischen Führern, Vertretern der verschiedenen Ebenen der Gemeinschaft sowie unseren internationalen Verbündeten begonnen“, sagte er. „Bald werden wir Ihnen die Ergebnisse mitteilen“, fügte er hinzu, ohne näher darauf einzugehen.

Neuer Sicherheitsbeauftragter für Kabul

Ghani ernannte am Samstag zudem Sami Sadat, den ehemaligen Kommandeur des 215. Armeekorps, zuständig für den Süden Afghanistans – der mittlerweile praktisch vollständig Taliban-Gebiet ist –, zum neuen Sicherheitsbeauftragten für die Stadt Kabul. Es ist fraglich, ob der neue Kabul-Beauftragte Sadat noch dazu kommen wird, die Kräfte und Verteidigungslinien für die Hauptstadt zu verstärken. Es ist nicht bekannt, wie viele der auf dem Papier rund 300.000 Mann starken Sicherheitskräfte – Armee und Polizei – mittlerweile den Dienst quittiert haben.

Nach den jüngsten kampflosen Übergaben mehrerer Provinzhauptstädte ist zudem unklar, ob die Sicherheitskräfte in Kabul sich den Taliban widersetzen würden. Weiter ist offen, wie lange sich Ghani angesichts der brisanten Lage noch halten kann. Er hatte am Samstag gesagt, er wolle „bald“ einen Plan vorlegen, um weiteres Blutvergießen und Zerstörung zu verhindern. Auf Spekulationen über seinen Rücktritt war er nicht eingegangen.

Zehntausende nach Kabul geflohen

Laut dem Kabuler Experten Sajed Naser Mosawi scheinen Ghani die Optionen auszugehen: Der Staatschef scheine nicht bereit, „bis zum Ende zu kämpfen“. Vielmehr wolle Ghani offenbar „eine Art von Einigung“ erzielen oder gar kapitulieren. Die US-Regierung hatte der afghanischen Armee zuvor einen „Mangel an Widerstand“ vorgeworfen.

Die Taliban hatten während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 eine strenge Auslegung des islamischen Rechts in Afghanistan eingeführt. Mädchen waren von Bildung, Frauen vom Arbeitsleben ausgeschlossen. Straftaten wurden mit öffentlichen Auspeitschungen oder Hinrichtungen geahndet.

afghanische Flüchtliche an der pakistanischen Grenze
APA/AFP
Tausende Menschen flüchten vor den Taliban

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sprach zuletzt von „entsetzlichen“ Berichten über Menschenrechtsverletzungen in von den Taliban kontrollierten Gebieten. Zehntausende Menschen sind vor den Taliban nach Kabul geflohen. Die Staatengemeinschaft muss laut Guterres nun deutlich machen, dass „eine Machtergreifung durch militärische Gewalt ein aussichtsloses Unterfangen ist“.

Nach UNO-Angaben sind seit Mai 250.000 Afghanen auf der Flucht, seit Anfang des Jahres damit 400.000. Intern Vertriebene sind in großer Zahl nach Kabul gereist und campieren dort etwa in Parks und auf öffentlichen Plätzen. Die militant-islamistischen Taliban setzen unterdessen ihren Eroberungszug fort und stehen schon wenige Kilometer vor den Toren Kabuls. Der deutsche Staatssekretär Niels Annen forderte unlängst, dass Europa dabei helfen müsse, „die fliehenden Menschen vor Ort in der Region, etwa in Tadschikistan, Iran oder Pakistan, aber auch in Afghanistan selbst zu versorgen. Dafür muss schnell Geld bereitstehen.“

Afghanistan-Konferenz geplant

Außenminister Alexander Schallenberg und Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP) verweisen indes auf eine geplante Afghanistan-Konferenz mit den zentralasiatischen Nachbarländern des Krisenlandes und einigen EU-Ländern, um möglichst zielsicher Hilfe vor Ort bieten zu können. Die Konferenz sei für Ende August oder Anfang September in virtueller Form geplant, wie eine Sprecherin Schallenbergs der APA mitteilte. Auf welcher Ebene die Länder vertreten sein werden, sei „noch in Ausarbeitung“.

Aus dem Innenministerium hieß es, Ziel der Konferenz sei, die Region bzw. die unmittelbaren Nachbarstaaten Afghanistans zu stärken. Darauf habe auch der gemeinsame Brief Österreichs mit Deutschland, Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Griechenland abgezielt – „nicht nur auf Abschiebungen“. Die sechs EU-Länder hatten vor rund einer Woche in einem Brief an die EU-Kommission zu einer Fortsetzung der Abschiebungen nach Afghanistan gedrängt, um in erster Linie straffällig gewordene Afghanen aus der EU zu bringen. Deutschland, Dänemark und die Niederlande haben die Abschiebungen mittlerweile wegen der Lage in Afghanistan offiziell ausgesetzt. Die Länder seien auch Partner für die geplante Konferenz.