Afghanistans Präsident Ashraf Ghani
Reuters/Afghan Presidential Palace
Taliban vor Kabul

Präsident Ghani soll Land verlassen haben

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani soll nach einem Bericht des Nachrichtensenders TOLO News unter dem Druck des Taliban-Vormarsches Afghanistan verlassen haben. Ein hochrangiger Beamter des afghanischen Innenministeriums sagte, Ghani sei in das benachbarte Tadschikistan unterwegs.

Aus dem Präsidentenbüro in Kabul wurde das zunächst nicht bestätigt. Mit dem Verweis auf Gründe der Sicherheit könne man nichts zum Aufenthalt Ghanis sagen, hieß es gegenüber Reuters. Aber auch ein hochrangiger Friedensunterhändler sagte, der Präsident sei nicht mehr in Afghanistan. „Der frühere afghanische Präsident hat die Nation verlassen“, sagte der Vorsitzende des afghanischen Friedensrats, Abdullah Abdullah.

Nach ihrem überraschend schnellen Eroberungsfeldzug erreichten die Taliban die afghanische Hauptstadt und stehen nach 20 Jahren vor einer Rückkehr an die Macht. Gerade einmal gut ein Vierteljahr nach Beginn des internationalen Truppenabzugs rückten die Extremisten am Sonntag nach Angaben des Innenministeriums in die Stadt ein. Sie kämen „von allen Seiten“, sagte ein ranghoher Ministeriumsvertreter. Berichte über Kämpfe lagen nicht vor.

Die Taliban hatten erklärt, mit der Regierung liefen Gespräche über eine friedliche Machtübergabe. Ihre Kämpfer sollten so lange an den Toren der Stadt Stellung beziehen. Ein Minister kündigte die Übergabe der Macht an eine Übergangsregierung an. Dem widersprachen die Taliban aber. Die Gruppe erwarte eine vollständige Machtübergabe, heißt es vonseiten ihrer Vertreter.

Afghanen warten vor der iranischen Botschaft in Kabul
AP/Rahmat Gul
Schlange vor der iranischen Botschaft in Kabul: Viele wollten sich noch Visa sichern

„Ausländer können Arbeit fortsetzen“

In sozialen Netzwerken kursierten bereits Fotos von Taliban-Kämpfern, die in die Außenbezirke der Stadt vorgedrungen waren. Anderen Medienberichten zufolge haben die Taliban bereits die Kontrolle in Teilen der Stadt übernommen. Berichtet wird von übernommenen Polizeistationen. Die Taliban-Führung erklärte, dass allen Menschen, die Kabul verlassen wollten, ein sicherer Abzug gewährt werde. Frauen sollten sich an geschützte Orte begeben. Man werde keine Rache üben, sagte ein Taliban-Sprecher. Allen, die der Regierung oder im Militär gedient hätten, werde vergeben. Zivilisten müssten das Land nicht aus Angst verlassen.

Auch Ausländerinnen und Ausländer können den Taliban zufolge die afghanische Hauptstadt verlassen, wenn sie das wünschten. Schahin versicherte in diesem Zusammenhang, dass die Kämpfer der Taliban keine ausländischen Botschafter oder Staatsbürger angreifen würden: „Es wird kein Risiko für Diplomaten, Nichtregierungsorganisationen, für irgendjemanden geben.“ Die Ausländer könnten ihre Arbeit in Afghanistan fortsetzen. Der Taliban-Sprecher appellierte, das Land nicht zu verlassen.

Videobotschaften von Präsident und Ministern

Die anstehende Machtübernahme durch die Taliban verkündete Afghansitans Innenminister Abdul Sattar Mirsakwal. Die Regierung habe angesichts der bis an den Stadtrand der Hauptstadt Kabul vorgerückten Taliban eine „friedliche Machtübergabe“ vereinbart. „Es wird keinen Angriff auf die Stadt geben“, versicherte Mirsakwal in einer aufgezeichneten Videobotschaft. Die Taliban betonten, dass die Kontrolle über Kabul in den „nächsten Tagen“ erfolgen werde.

Der Innenminister von Afghanistan Abdul Sattar Mirsakwal
Reuters/Ministry of Interior
Innenminister Mirsakwal kündigte per Videobotschaft eine „friedliche Machtübergabe“ an

Afghanistans Präsident Ghani forderte zuvor die Regierungstruppen auf, in der Hauptstadt weiterhin für „die Sicherheit aller Bürger“ zu sorgen. Die Verbreitung von Chaos oder Plünderungen würden nicht geduldet, so Ghani in einer am Sonntag verbreiteten Videobotschaft. Verteidigungsminister Bismillah Chan Mohammadi sagte in einer auf Facebook veröffentlichten Videoansprache, er als Vertreter der Streitkräfte garantiere die Sicherheit Kabuls. Die Menschen sollten nicht in Panik verfallen.

In Kabul spielten sich Medienberichten zufolge dennoch chaotische Szenen ab. Es kam zu einer Schießerei vor einer Bank, wie ein Bewohner der Stadt sagte. Viele Menschen versuchten, ihr Erspartes abzuheben, Lebensmittel zu kaufen und zu ihren Familien heimzukehren. Ein Soldat aus Kabul sagte, seine gesamte Einheit habe die Uniformen abgelegt. Regierungsmitarbeiter hätten ihre Büro fluchtartig verlassen.

Verhandlungen in Doha

Nach Angaben von Mohammadi werde nun in Doha weiter über die Zukunft von Afghansthan verhandelt. Es sei bekannt, dass sich Ghani mit heimischen Politikern getroffen habe und ihnen die Verantwortung übertragen habe, eine autoritative Delegation aufzustellen, die am Montag nach Doha reisen solle, um mit den Taliban eine Einigung über die Afghanistan-Frage zu erzielen. Die Sicherheit von Kabul werde aufrechterhalten, bis eine Einigung erzielt wird, sagte er.

Taliban in Kabul vor Machtübernahme

Nachdem sie in den Tagen zuvor zahlreiche weitere Städte eingenommen haben, haben die Taliban am Sonntag die afghanische Hauptstadt Kabul erreicht. Der Innenminister des Landes spricht bereits von einer „friedlichen Machtübergabe“.

Erklärtes Ziel sei die Bildung einer „Übergangsregierung“. Ob das der Fall sein wird, ist nicht bekannt. Jedenfalls ist der ehemalige Innenminister und Botschafter in Deutschland, Ali Ahmad Jalali, Diplomatenkreisen zufolge im Gespräch, eine Übergangsregierung zu führen. Ob die Taliban Jalalis Ernennung zustimmen, sei noch nicht klar. Er gelte aber als Kompromisskandidat, der potenziell von allen Seiten akzeptiert werden könnte.

Jalalabad gefallen

Nur wenige Stunden vor Vorrücken Richtung Kabul übernahmen die Taliban die Kontrolle über die Großstadt Jalalabad im Osten des Landes. Die Provinzhauptstadt von Nangarhar sei kampflos von den Islamisten erobert worden, bestätigten zwei Provinzräte und ein Bewohner am Sonntag. Die Islamisten seien um 6.00 Uhr (Ortszeit) nach Jalalabad, eine wirtschaftlich wichtige Stadt mit 280.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, eingedrungen, sagte ein Bewohner. Zwei Provinzräte erklärten, es habe keine Kämpfe gegeben. „Kämpfen wäre sinnlos gewesen.“

Die militant-islamistischen Taliban auf einem Platz der Großstadt Dschalalabad im Osten Afghanistans
Reuters/Social Media Website
Am Sonntag rückten die Taliban in Jalalabad ein

Erst am Samstagabend hatten die Taliban die wichtige Stadt Mazar-e Sharif im Norden mehr oder wenig kampflos eingenommen. Der örtliche Provinzrat und Bewohner von Mazar-e Sharif berichteten, dass die Stadt eingenommen wurde. Soldaten der Regierung seien in Richtung der Grenze zu Usbekistan geflohen. In einem Feldlager am Rande der Stadt hatte die deutsche Bundeswehr bis zu ihrem Abzug im Juni ihr Hauptquartier für den Afghanistan-Einsatz. Die Stadt galt als eine der letzten Hochburgen des Regierungslagers. Kabul ist nun angesichts des raschen Vorrückens der Taliban de facto die letzte Bastion der Regierungstruppen.

Hubschrauber für US-Botschaftspersonal

Die Geschwindigkeit des Taliban-Vormarsches seit Beginn des Abzugs der NATO-Truppen im Mai sorgte international für Fassungslosigkeit. Unter Hochdruck arbeiten westliche Staaten, darunter die USA, Großbritannien und Deutschland, an der Rückführung von Botschaftspersonal sowie der Ausreise von afghanischen Ortskräften aus Kabul.

Ein US-Helikopter kreist über der US-Botschaft in Kabul
AP/Rahmat Gul
Die USA bringen ihr Botschaftspersonal per Hubschrauber zum Flughafen von Kabul

US-Präsident Joe Biden verteidigte am Vortag erneut seine Entscheidung, das US-Militär nach 20 Jahren komplett aus Afghanistan abzuziehen. Er sei der vierte US-Präsident, der die Verantwortung über diese Truppenpräsenz getragen habe, sagte er. „Ich werde diesen Krieg nicht an einen fünften Präsidenten weitergeben.“ In einer Mitteilung des Präsidenten hieß es: „Ein weiteres Jahr oder fünf weitere Jahre US-Militärpräsenz hätten keinen Unterschied gemacht, wenn das afghanische Militär sein eigenes Land nicht halten kann oder will.“ Eine endlose amerikanische Präsenz inmitten eines Bürgerkriegs in einem anderen Land sei für ihn nicht akzeptabel gewesen.

Präsident mit TV-Ansprache

Ghani war in einer am Samstag übertragenen TV-Ansprache noch um Beruhigung der Bevölkerung bemüht. Er sagte, dass er sich mit politischen Führern des Landes und internationalen Partnern beraten habe. Die Ergebnisse wolle er „bald“ mitteilen. Ghani versprach in seiner Ansprache, dass er die „Errungenschaften“ in den vergangenen 20 Jahren seit dem Sturz der Taliban durch die USA nach den Anschlägen vom 11. September nicht aufgeben werde.

Laut dem Kabuler Experten Sajed Naser Mosawi scheinen Ghani die Optionen auszugehen: Der Staatschef scheine nicht bereit, „bis zum Ende zu kämpfen“. Vielmehr wolle Ghani offenbar „eine Art von Einigung“ erzielen oder gar kapitulieren. Die US-Regierung hatte der afghanischen Armee zuvor einen „Mangel an Widerstand“ vorgeworfen.

UNO: „Entsetzliche“ Berichte

Die Taliban hatten während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 eine strenge Auslegung des islamischen Rechts in Afghanistan eingeführt. Mädchen waren von Bildung, Frauen vom Arbeitsleben ausgeschlossen. Straftaten wurden mit öffentlichen Auspeitschungen oder Hinrichtungen geahndet.

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sprach zuletzt von „entsetzlichen“ Berichten über Menschenrechtsverletzungen in von den Taliban kontrollierten Gebieten. Zehntausende Menschen sind vor den Taliban nach Kabul geflohen. Die Staatengemeinschaft muss laut Guterres nun deutlich machen, dass „eine Machtergreifung durch militärische Gewalt ein aussichtsloses Unterfangen ist“. Nach UNO-Angaben sind seit Mai 250.000 Afghanen auf der Flucht, seit Anfang des Jahres damit 400.000. Intern Vertriebene sind in großer Zahl nach Kabul gereist und campieren dort etwa in Parks und auf öffentlichen Plätzen.

Afghanistan-Konferenz geplant

Außenminister Alexander Schallenberg und Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP) verweisen indes auf eine geplante Afghanistan-Konferenz mit den zentralasiatischen Nachbarländern des Krisenlandes und einigen EU-Ländern, um möglichst zielsicher Hilfe vor Ort bieten zu können. Die Konferenz sei für Ende August oder Anfang September in virtueller Form geplant, wie eine Sprecherin Schallenbergs der APA mitteilte. Auf welcher Ebene die Länder vertreten sein werden, sei „noch in Ausarbeitung“.