Kontrolle an der afghanisch-pakistanischen Grenze
APA/AFP
Afghanistan

Die Folgen des Taliban-Siegeszugs

Neun Tage nach der Eroberung der ersten Provinzhauptstadt sind die radikalislamischen Taliban bis in die afghanische Hauptstadt Kabul vorgerückt. In der Bevölkerung ist die Angst vor Vergeltungsaktionen der Dschihadisten groß. Auch international herrscht Besorgnis über die Folgen des Taliban-Siegeszugs.

In „30 bis 90 Tagen“ werde Kabul an die Taliban fallen, lautete die Einschätzung der US-Geheimdienste noch vergangene Woche. Die Annahme hielt nicht einmal fünf Tage: Am Sonntag drangen die Islamisten in die Hauptstadt Afghanistans ein und besetzten den Präsidentenpalast. Präsident Ashraf Ghani hat das Land fluchtartig verlassen. Nach Angaben des früheren afghanischen Staatschefs Hamid Karzai wurde ein „Koordinierungsrat“ gebildet, der eine friedliche Machtübergabe an die Dschihadisten gewährleisten soll.

In den vergangenen Tagen nahmen die Taliban zahlreiche wichtige Städte ein, viele davon kampflos, etwa die Handelsstadt Jalalabad. Auch die große Schlacht um Kabul blieb aus. Die afghanischen Sicherheitskräfte – die zwei Jahrzehnte lang mit Milliarden aus dem Westen aufgebaut wurden – leisteten kaum Widerstand. Auch die sich in der Stadt befindlichen 5.000 Angehörigen der US-Streitkräfte griffen nicht ein. Ihre Mission war es einzig und allein, den Abzug des diplomatischen Personals zu sichern.

Afghanistan-Expertin über die Lage in Kabul

Kriegsberichterstatterin und Afghanistan-Expertin Petra Ramsauer analysiert, wie es dazu kommen konnte, dass die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul kampflos einnehmen konnten.

Furcht vor Vergeltung

20 Jahre, nachdem die USA und ihre Verbündeten im Rahmen der „Operation Enduring Freedom“ die Herrschaft der Taliban beendet hatten, greifen die Dschihadisten wieder nach der Macht. In großen Teilen der Bevölkerung weckt das düstere Erinnerungen an die Jahre 1996 bis 2001, als die Islamisten gemäß ihrer Auslegung des islamischen Rechts (Scharia) Hinrichtungen durchführten, Frauen das Arbeiten verboten, Mädchenschulen schlossen und die meisten Sportarten, Musik und Tanz untersagten.

Im Juni stellten die Taliban „Erleichterungen“ für Frauen und eine Möglichkeit zur Ausbildung in Aussicht. Nach dem Abzug der ausländischen Truppen wolle man ein „echtes islamisches System“ errichten, in dem Rechte von Frauen und Minderheiten in diesem Sinne geschützt werden, erklärten die Taliban bei „Friedensverhandlungen“ mit der afghanischen Regierung in Katar.

Am Sonntag kündigten die Taliban einen Dialog an, man wolle mit jedem Menschen in Afghanistan in Frieden zusammenarbeiten. Wie viel die Ankündigung wert ist, wird sich weisen. Die Tausenden Afghaninnen und Afghanen, die für die westlichen Militärs tätig waren, fürchten Racheakte der Dschihadisten. Hinzu kommen Frauenrechtlerinnen, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten, die schon in den vergangenen Jahren oft Ziel von Anschlägen der Islamisten wurden.

Warnung vor neuen Fluchtbewegungen

Europa beschäftigt indes die Sorge vor einer neuen großen Fluchtbewegung. Tausende Afghaninnen und Afghanen waren in den vergangenen Tagen im eigenen Land auf der Flucht vor den vorrückenden Taliban. Viele suchten Schutz in Kabul. Der Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, drängte auf eine schnelle Einigung in der EU-Migrationspolitik. Innenminister Karl Nehammer und Außenminister Alexander Schallenberg (beide ÖVP) planen eine Afghanistan-Konferenz mit Nachbarländern des Krisenlandes und einigen EU-Ländern für zielsichere Hilfe in der Region. Sie sprachen sich abermals gegen einen generellen Abschiebestopp aus.

Menschen vor einer Bank in Kabul
AP/Rahmat Gul
Szene aus Kabul: Tausende Menschen suchten in den vergangenen Tagen in der afghanischen Hauptstadt Schutz vor den Taliban

Der Politikwissenschaftler und Sicherheitsexperte Walter Feichtinger glaubt indes nicht an eine Flüchtlingswelle Richtung Europa nach dem Machtwechsel. Zunächst würden die Menschen, die das Land verlassen wollen, eher in die Nachbarstaaten fliehen. Erst nach rund fünf Jahren stelle sich erfahrungsgemäß die Frage: „Kann ich zurück in mein Land, kann ich hier bleiben oder will ich noch weiter weggehen?“, sagte Feichtinger am Sonntagabend in der ORF-Sendung „Runder Tisch“.

Der an Afghanistan grenzende Iran hat nach eigenen Angaben bereits mit der Einrichtung von Pufferzonen an den Grenzen begonnen. Albanien und der Kosovo kündigten unterdessen die vorübergehende Aufnahme afghanischer Geflüchteter an. Die Menschen sollen später in die USA gebracht werden.

Das Ende der westlichen Militärinterventionen

Die Geschehnisse in Afghanistan haben zudem weltpolitische Tragweite. Das Land könne zu einem „Quell der Instabilität für die ganze Region werden“, warnte der „Spiegel“. Afghanische Warlords könnten sich gegen die Taliban in Stellung bringen, die umliegenden Regionalmächte Iran, Pakistan und Indien könnten sich über Stellvertretertruppen einmischen.

„Runder Tisch“: Afghanistan in der Hand der Taliban

Afghanistan in der Hand der Taliban – Was bedeutet das für das Land, die Region und die Welt? Darüber diskutierten bei Andreas Pfeifer am „Runden Tisch“ Fritz Orter (ehem. ORF-Reporter Afghanistan), Mirwais Wakil (Experte für Internationale Beziehungen), Petra Ramsauer (Journalistin und Afghanistan-Expertin) und Walter Feichtinger (Präsident Center für Strategische Analysen).

Ob sich die USA und Europa nochmals militärisch in der Region engagieren werden, ist höchst ungewiss. „Das monumentale Afghanistan-Debakel markiert eine Wende: In absehbarer Zeit wird es wohl keine westlichen Militärinterventionen mehr geben, so dick kann der humanitäre Anstrich gar nicht sein“, kommentierte die „Presse“.

Eine „neue Ära der Gleichgülitgkeit“ beginne, schrieb das Blatt: „Das wird autokratische Regime ermuntern, ihre neuen Grenzen auszuloten.“ So könnte etwa China in die Lücke vorstoßen, die Washington hinterlässt. Eine Taliban-Abordnung war bereits Ende Juli in Peking zu Gast.

Scharfe Kritik an Biden

In den USA wird unterdessen die Kritik an Präsident Joe Biden lauter. Der Abzug der US-Truppen aus dem Land war zwar noch von Bidens Vorgänger Donald Trump auf den Weg gebracht worden; Biden war es jedoch, der ungeachtet der sich verschlechternden Sicherheitslage die Truppen heimholte. Noch Anfang Juli sagte Biden, es sei „unwahrscheinlich“, dass die Taliban das Land überrennen könnten.

Sicherheitsexpertinnen und -experten versuchten Biden laut US-Medien davon zu überzeugen, den Truppenabzug um einige Monate zu verschieben, um der afghanischen Armee Zeit zu geben, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen. Biden blieb hart: Bis spätestens 11. September – dem 20. Jahrestag der 9/11-Terroranschläge – werde der Abzug abgeschlossen, so der Präsident.

Soldaten der U.S Air Force in Kandahar, 2018
Reuters/Omar Sobhani
Ohne die Luftunterstützung der US-Streitkräfte brach der Widerstand der afghanische Armee rasch zusammen (Bild von 2018)

Von einem Tag auf den anderen verlor die afghanische Armee die Luftaufklärung und Luftunterstützung des US-Militärs. Ebenso schwer wog der gleichzeitige Abzug privater Sicherheitsunternehmen, die unter anderem für die Wartung und Instandhaltung der afghanischen Luftstreitkräfte zuständig waren. Viele der angekauften Waffen, gepanzerten Fahrzeuge und Kampfdrohnen fielen in die Hände der Taliban.

„Schlimmste US-Demütigung seit Saigon“

Das „Wall Street Journal“ schrieb dazu, dass die von Trump gesetzte Frist für den Abzug ein Fehler war, den Biden aber hätte umgehen können. „Biden hätte die bescheidene (Militär-)Präsenz aufrechterhalten können, die seine militärischen und außenpolitischen Berater vorgeschlagen hatten. (…) Stattdessen ordnete er einen schnellen und vollständigen Rückzug an (…). Nur vier Monate später ist das Ergebnis die schlimmste US-Demütigung seit dem Fall Saigons 1975.“

Der „verpfuschte Abzug“ aus Afghanistan und die „hektische Evakuierung“ von Amerikanern und afghanischen Helfern seien ein „beschämendes Versagen der amerikanischen Führung“, sagte der Minderheitsführer der Republikaner im US-Senat, Mitch McConnell, am Sonntag (Ortszeit). Die USA hätten die Möglichkeit gehabt, „diese Katastrophe zu vermeiden“.