Ashraf Ghani
Reuters/Mohammad Ismail
„Blutbad verhindern“

Ghani rechtfertigt Flucht aus Afghanistan

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani befindet sich nach eigenen Angaben im Exil. Er habe das Land verlassen, um ein „Blutbad zu verhindern“, erklärte der Politiker am Sonntagabend auf Facebook. Zu seinem Aufenthaltsort äußert er sich nicht. Unterdessen drangen die Taliban in Kabul und in den Präsidentenpalast ein.

Es sei eine schwierige Entscheidung gewesen, so Ghani weiter. „Die Taliban wollten mich entfernen, sie sind hier, um Kabul und die Menschen in Kabul zu attackieren. Um ein Blutbad zu verhindern, bin ich zur Auffassung gelangt, dass es besser ist, das Land zu verlassen.“ Wenn er geblieben wäre, wären „zahllose Patrioten“ getötet und Kabul zerstört worden.

„Die Taliban haben gesiegt“, schrieb Ghani. Die Islamisten seien nun verantwortlich für „die Ehre, das Eigentum und die Selbsterhaltung ihrer Landsleute“. Noch zu keiner Zeit in der Geschichte habe die Anwendung von Gewalt irgendjemandem Legitimität verliehen, und dies werde auch in der Zukunft nicht der Fall sein, hieß es in Ghanis Erklärung weiter. Die Islamisten stünden nun vor einer historischen Herausforderung.

Bericht: Ghani in Usbekistan

Laut Al-Jazeera verließ Ghani das Land Richtung Usbekistan, wo er sich mit seiner Frau nun aufhalte. Ein hochrangiger Beamter hatte zuvor noch gesagt, dass der Präsident in das benachbarte Tadschikistan unterwegs sei. Mit dem Verweis auf Gründe der Sicherheit könne man nichts zum Aufenthalt Ghanis sagen, teilte der Präsidentenpalast mit.

Dort haben aber ohnehin die Taliban die Kontrolle übernommen. Al-Jazeera veröffentliche Fotos und Videos aus dem Sitz des Präsidenten. Auf den Bildern sind Kämpfer der Taliban hinter dem Schreibtisch von Ghani zu sehen. Umgeben von Bewaffneten wandten sich Führer der Gruppe an Journalisten.

„Wirklich eine Schande“

Dass Ghani Afghanistan verlassen hat, zog auch Kritik von Regierungsmitgliedern nach sich. Die afghanische Bildungsministerin Rangina Hamidi zeigte sich „geschockt und ungläubig“. Sie wolle es noch immer nicht wahrhaben, dass er gegangen sei. „Aber wenn er es getan hat, ist es wirklich eine Schande“, so Hamidi.

Verlassener Checkpoint in Kabul
APA/AFP/Wakil Kohsar
Viele Sicherheitsposten in Kabul waren am Sonntag unbesetzt

Der Vorsitzende des Nationalen Versöhungsrates, Abdullah Abdullah, sagte: Der „Ex-Präsident“ habe in dieser Situation das Land verlassen, und Gott möge ihn zur Rechenschaft ziehen. Auch das Volk werde über ihn richten. „Sie haben uns die Hände hinter unserem Rücken gefesselt und das Land verkauft“, schrieb Verteidigungsminister Bismillah Chan Mohammadi auf Twitter ohne nähere Erläuterung.

Die internationale Gemeinschaft reagierte auf die Ereignisse in Kabul. Der britische Premier Boris Johnson betonte, dass man eine Taliban-Regierung nicht anerkennen werde. US-Präsident Joe Biden tauschte sich mit seinem nationalen Sicherheitsteam aus. Sein Außenminister, Antony Blinken, verteidigte den Abzug des US-Militärs aus Afghanistan. Estland und Norwegen haben Diplomaten zufolge eine Sondersitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu Afghanistan beantragt. Das Gremium soll am Montag (Ortszeit) in New York zusammentreten.

In Kabul eingedrungen

Die Taliban, die am Sonntag in Kabul eingedrungen waren, kündigten an, man werde vom Dach des Präsidentenpalasts die Gründung des Islamischen Emirats Afghanistan ausrufen. So hieß das Land unter der Herrschaft der Taliban, bevor diese nach den Anschlägen vom 11. September 2001 von den US-geführten Streitkräften verdrängt wurden.

Zunächst hieß es, dass die Taliban-Kämpfer bis zu einer friedlichen Machtübergabe außerhalb Kabuls warten werden. Doch afghanische Polizisten hätten ihre Posten in Teilen der Stadt verlassen, so die Gruppe. Um Plünderungen und Einbrüche in der Hauptstadt zu verhindern, habe man einmarschieren müssen, begründeten die Taliban ihr Vorgehen. Man wolle für Sicherheit sorgen.

Taliban erwarten „vollständige Machtübergabe“

Nach ihrem überraschend schnellen Eroberungsfeldzug erreichten die Taliban die afghanische Hauptstadt und stehen nach 20 Jahren vor einer Rückkehr an die Macht. Gerade einmal gut ein Vierteljahr nach Beginn des internationalen Truppenabzugs rückten die Extremisten in die Stadt ein. Sie kämen „von allen Seiten“, sagte ein ranghoher Ministeriumsvertreter. Berichte über Kämpfe lagen nicht vor.

Die Taliban hatten erklärt, mit der Regierung liefen Gespräche über eine friedliche Machtübergabe. Ein Minister kündigte die Übergabe der Macht an eine Übergangsregierung an. Dem widersprachen die Taliban aber. Die Gruppe erwarte eine „vollständige Machtübergabe“, heißt es vonseiten ihrer Vertreter. Mehr als 40 Menschen wurden nach Angaben eines Krankenhauses in Kabul bei Kämpfen am Stadtrand verletzt. Details wurden nicht genannt.

„Kein Angriff auf die Stadt“

Ein Minister kündigte die Übergabe der Macht an eine Übergangsregierung an. „Es wird keinen Angriff auf die Stadt geben“, teilte der kommissarische Innenminister Abdul Sattar Mirsakawal nach Angaben von TOLO News mit. „Es wurde vereinbart, dass es eine friedliche Übergabe geben wird.“ Er sprach von einer Übergangsregierung, ohne Details zu nennen. Nach Angaben des früheren afghanischen Präsidenten Hamid Karsai sei ein Koordinierungsrat gebildet worden.

In Diplomatenkreisen hieß es, der mittlerweile in den USA lebende Ex-Innenminister Ali Ahmad Jalali, der auch einst Afghanistans Botschafter in Deutschland war, sei als Kompromisskandidat für die Leitung einer solchen Übergangsregierung im Gespräch. Zwei Taliban-Vertreter relativierten die Aussagen zu einer Übergangsregierung, es gehe um eine komplette Machtübergabe,

Nach Angaben von Verteidigungsminister Mohammadi werde nun in Doha weiter über die Zukunft von Afghansthan verhandelt. Es sei bekannt, dass sich Ghani mit heimischen Politikern getroffen habe und ihnen die Verantwortung übertragen habe, eine autoritative Delegation aufzustellen, die am Montag nach Doha reisen solle, um mit den Taliban eine Einigung über die Afghanistan-Frage zu erzielen.

Beide Seiten betonten „friedliche Übergabe“

Die Taliban waren seit dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Mai nach einem fast 20-jährigem Einsatz in Afghanistan zuletzt immer schneller bis vor die Tore Kabuls vorgestoßen. In der vergangenen Woche eroberten sie eine Provinzhauptstadt nach der anderen, zuletzt auch die vorletzte große Stadt Jalalabad, wo sie nach Angaben eines Behördenvertreters kampflos einrückten. Auch brachten sie sämtliche großen Grenzübergänge und damit alle wichtigen Landwege in die Nachbarländer unter ihre Kontrolle.

Die Taliban wollen nach eigenen Angaben innerhalb der „nächsten Tage“ die Kontrolle über Kabul übernehmen. Die Miliz strebe eine „friedliche Übergabe“ der Macht in der afghanischen Hauptstadt an, sagte der in Katar ansässige Taliban-Vertreter Suhail Shaheen am Sonntag dem britischen Sender BBC. Die Taliban wollten eine „inklusive islamische Regierung“ bilden, in der „alle Afghanen“ vertreten seien.

„Wollen mit Afghanen zusammenarbeiten“

Shaheen versicherte, dass die Kämpfer der Taliban keine ausländischen Botschafter oder Staatsbürger angreifen würden: „Es wird kein Risiko für Diplomaten, Nichtregierungsorganisationen, für irgendjemanden geben.“ Die Ausländer könnten ihre Arbeit in Afghanistan fortsetzen. Der Taliban-Sprecher appellierte an die Ausländer, das Land nicht zu verlassen.

Taliban in Kabul einmarschiert

Die Taliban stehen unmittelbar vor der Einnahme der afghanischen Hauptstadt Kabul. Am Sonntag sind erste Islamisten in die Vororte der Stadt einmarschiert.

Doch viele Staaten haben bereits begonnen, ihre Botschaften zu evakuieren. So wurden etwa Vertretungsbehörden der USA, von Frankreich und von Italien in die Nähe des Flughafens verlagert. Die US-Botschaft in Kabul warnte jedoch vor einer sich rasch verändernden Sicherheitslage. Es gebe Berichte über Schüsse am Airport. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte, dass das Militärbündnis dabei helfe, den Flughafen offenzuhalten, Evakuierungen zu erleichtern und zu koordinieren. Erlaubt seien aber nur noch Militärflüge.

Die Taliban hatten in Afghanistan bereits in den Jahren 1996 bis 2001 geherrscht, bis sie durch eine von den USA angeführte Militärinvasion gestürzt wurden. Shaheen trat nun Befürchtungen entgegen, dass die Islamisten auf ähnlich drakonische Weise herrschen könnten wie damals: „Wir wollen mit jedem Afghanen zusammenarbeiten, wir wollen ein neues Kapitel des Friedens, der Toleranz, der friedlichen Koexistenz und nationalen Einheit für unser Land und das Volk von Afghanistan aufschlagen.“