Taliban im afghanischen Präsidentschaftspalast
AP/Zabi Karimi
Nach Ghanis Flucht

Taliban nehmen Präsidentenpalast ein

Am Sonntag haben die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul kampflos eingenommen. Von symbolischer Bedeutung war dabei der Präsidentenpalast. Nachdem der afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land fluchtartig verlassen hatte, besetzten die Dschihadisten am Sonntag dessen Amtssitz und verkündeten ihren Sieg.

Bewaffnete Kämpfer der Miliz zogen in den Präsidentenpalast in der afghanischen Hauptstadt ein, wie auf Fernsehbildern zu sehen war. Der Politbürochef der Extremisten, Abdul Ghani Baradar, sagte in einer Videobotschaft, dieser unerwartete Erfolg sei beispiellos in der Welt. Nun aber folge die wirkliche Bewährungsprobe, nämlich die Erwartungen der Menschen zu erfüllen und ihre Probleme zu lösen.

Ghani, der sich Berichten zufolge in Usbekistan aufhalten soll, schrieb zur Begründung seiner Flucht, andernfalls wären zahlreiche Landsleute getötet und die Stadt Kabul zerstört worden. „Ich entschied mich zu gehen, um dieses Blutvergießen zu verhindern.“ Die Taliban hätten ihre Macht mit Waffengewalt errungen und seien nun dafür zuständig, die Leben, das Vermögen und die Ehre der Bürger zu schützen.

Taliban vor dem afghanischen Präsidentschaftspalast
AP/Zabi Karimi
Kämpfer der Taliban auf dem Weg zum Präsidentenpalast

Laut einem Sprecher der Taliban hat die Gruppe das nun auch vor. „Wir haben erreicht, was wir wollten: Freiheit für unser Land und Unabhängigkeit für unsere Leute“, sagte er gegenüber al-Jazeera. Man wolle sich nicht in Angelegenheiten anderer Staaten einmischen, aber niemand „darf sich in unsere Angelegenheiten einmischen. Wir glauben nicht, dass ausländische Kräfte ihre Fehler in Afghanistan wiederholen werden“, hieß es weiter. Welches Regime künftig in Afghanistan gelten wird, werde bald feststehen.

„Entsetzt und ungläubig“

Dass Ghani Afghanistan verlassen hat, zog auch Kritik von Regierungsmitgliedern nach sich. Die afghanische Bildungsministerin Rangina Hamidi zeigte sich „entsetzt und ungläubig“. Sie wolle es noch immer nicht wahrhaben, dass er gegangen sei. „Aber wenn er es getan hat, ist es wirklich eine Schande“, so Hamidi.

Der Vorsitzende des Nationalen Versöhnungsrates, Abdullah Abdullah, sagte: Der „Ex-Präsident“ habe in dieser Situation das Land verlassen, und Gott möge ihn zur Rechenschaft ziehen. Auch das Volk werde über ihn richten. „Sie haben uns die Hände hinter unserem Rücken gefesselt und das Land verkauft“, schrieb Verteidigungsminister Bismillah Khan Mohammadi auf Twitter ohne nähere Erläuterung.

UNO-Sicherheitsrat tagt

Die internationale Gemeinschaft reagierte auf die Ereignisse in Kabul. Der britische Premier Boris Johnson betonte, dass man eine Taliban-Regierung nicht anerkennen werde. US-Präsident Joe Biden tauschte sich mit seinem nationalen Sicherheitsteam aus. Sein Außenminister Antony Blinken verteidigte den Abzug des US-Militärs aus Afghanistan.

Estland und Norwegen haben Diplomaten zufolge eine Sondersitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu Afghanistan beantragt. Das Gremium soll am Montag (Ortszeit) in New York zusammentreten. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres rief die Taliban und alle anderen Parteien zu größtmöglicher Zurückhaltung auf, um Leben zu schützen. Guterres fordere sie auf sicherzustellen, dass humanitäre Bedürfnisse bedient werden könnten, sagte der Sprecher von Guterres.

In Kabul eingedrungen

Die Geschwindigkeit des Taliban-Vormarsches seit dem Beginn des Abzugs der NATO-Truppen im Mai löste international Fassungslosigkeit aus. Am Sonntag drangen sie in Kabul ein. Dort kündigten sie an, man werde vom Dach des Präsidentenpalasts die Gründung des Islamischen Emirats Afghanistan ausrufen. So hieß das Land unter der Herrschaft der Taliban, bevor diese nach den Anschlägen vom 11. September 2001 von den US-geführten Streitkräften verdrängt wurden.

Verlassener Checkpoint in Kabul
APA/AFP/Wakil Kohsar
Viele Sicherheitsposten in Kabul waren am Sonntag unbesetzt

Zunächst hieß es, dass die Taliban-Kämpfer bis zu einer friedlichen Machtübergabe außerhalb Kabuls warten werden. Doch afghanische Polizisten hätten ihre Posten in Teilen der Stadt verlassen, so die Gruppe. Um Plünderungen und Einbrüche in der Hauptstadt zu verhindern, habe man einmarschieren müssen, begründeten die Taliban ihr Vorgehen. Gerade einmal gut ein Vierteljahr nach Beginn des internationalen Truppenabzugs rückten die Extremisten in die Stadt ein.

„Kein Angriff auf die Stadt“

Die Taliban hatten erklärt, mit der Regierung liefen Gespräche über eine friedliche Machtübergabe. Ein Minister kündigte die Übergabe der Macht an eine Übergangsregierung an. Dem widersprachen die Taliban aber. Die Gruppe erwarte eine „vollständige Machtübergabe“, hieß es vonseiten ihrer Vertreter. Mehr als 40 Menschen wurden nach Angaben eines Krankenhauses in Kabul bei Kämpfen am Stadtrand verletzt. Details wurden nicht genannt.

„Es wird keinen Angriff auf die Stadt geben“, teilte der kommissarische Innenminister Abdul Sattar Mirsakawal nach Angaben von Tolo News mit. „Es wurde vereinbart, dass es eine friedliche Übergabe geben wird.“ Er sprach von einer Übergangsregierung, ohne Details zu nennen. Nach Angaben des früheren afghanischen Präsidenten Hamid Karzai sei ein Koordinierungsrat gebildet worden.

Taliban in Kabul eingerückt

Nur wenige Wochen nach Beginn des Abzugs der US-Truppen aus Afghanistan haben die Taliban das Land erobert. Der afghanische Präsident hat das Land verlassen.

In Diplomatenkreisen hieß es, der mittlerweile in den USA lebende Ex-Innenminister Ali Ahmad Jalali, der auch einst Afghanistans Botschafter in Deutschland war, sei als Kompromisskandidat für die Leitung einer solchen Übergangsregierung im Gespräch. Zwei Taliban-Vertreter relativierten die Aussagen zu einer Übergangsregierung, es gehe um eine komplette Machtübergabe.

Nach Angaben von Verteidigungsminister Mohammadi werde nun in Doha weiter über die Zukunft von Afghanistan verhandelt. Es sei bekannt, dass sich Ghani mit heimischen Politikern getroffen und ihnen die Verantwortung übertragen habe, eine autoritative Delegation aufzustellen, die am Montag nach Doha reisen solle, um mit den Taliban eine Einigung über die Afghanistan-Frage zu erzielen.

Beide Seiten betonten „friedliche Übergabe“

Die Taliban waren seit dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Mai nach einem fast 20-jährigen Einsatz in Afghanistan zuletzt immer schneller bis vor die Tore Kabuls vorgestoßen. In der vergangenen Woche eroberten sie eine Provinzhauptstadt nach der anderen, zuletzt auch die vorletzte große Stadt Jalalabad, wo sie nach Angaben eines Behördenvertreters kampflos einrückten. Auch brachten sie sämtliche großen Grenzübergänge und damit alle wichtigen Landwege in die Nachbarländer unter ihre Kontrolle.

Die Taliban wollten innerhalb der „nächsten Tage“ die Kontrolle über Kabul übernehmen, sagte der in Katar ansässige Taliban-Vertreter Suhail Shaheen am Sonntag dem britischen Sender BBC. Die Taliban wollten eine „inklusive islamische Regierung“ bilden, in der „alle Afghanen“ vertreten seien. Er versicherte, dass die Kämpfer der Taliban keine ausländischen Botschafter oder Staatsbürger angreifen würden: „Es wird kein Risiko für Diplomaten, Nichtregierungsorganisationen, für irgendjemanden geben.“ Die Ausländer könnten ihre Arbeit in Afghanistan fortsetzen. Der Taliban-Sprecher appellierte an die Ausländer, das Land nicht zu verlassen.

Botschaften werden evakuiert

Doch viele Staaten haben bereits begonnen, ihre Botschaften zu evakuieren. So wurden etwa Vertretungsbehörden der USA, von Frankreich und von Italien in die Nähe des Flughafens verlagert. Auch deutsche Botschaftsmitarbeiter wurden Medienberichten zufolge ausgeflogen. Die US-Botschaft in Kabul warnte vor einer sich rasch verändernden Sicherheitslage. Es gebe Berichte über Schüsse auf dem Flughafen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, dass das Militärbündnis dabei helfe, den Flughafen offen zu halten, Evakuierungen zu erleichtern und zu koordinieren. Erlaubt seien aber nur noch Militärflüge.

Wegen der unsicheren Lage auf dem Flughafen wollen die USA unterdessen rund 1.000 weitere Soldaten nach Afghanistan schicken. Das bestätigte das US-Verteidigungsministerium in der Nacht. Damit würde die Truppenstärke auf 6.000 steigen. Die Soldaten sollen vor allem den internationalen Flughafen sicher. Große Fluggesellschaften wie United Airlines, British Airways und Virgin Atlantic erklärten in der Nacht, sie würden den Luftraum Afghanistans nicht mehr überfliegen.

Sichere Ausreise soll möglich sein

Mehr als 60 Länder fordern unterdessen in einer gemeinsamen Erklärung, Afghanen und andere Staatsbürger, die das Land verlassen wollen, müsse die Ausreise erlaubt werden. Auch Flughäfen und Grenzübergänge müssten geöffnet bleiben, teilte das US-Außenministerium mit. Die Forderung sei unter anderem von den USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Kanada, Japan, Italien, Südkorea, Australien und Katar unterzeichnet worden – auch Österreich sei unter den Unterzeichnern.

Die Machthaber in Afghanistan würden die Verantwortung für den Schutz von Menschenleben und Eigentum sowie die sofortige Wiederherstellung von Sicherheit und bürgerlicher Ordnung tragen. Das afghanische Volk verdiene es, in Sicherheit und Würde zu leben. Die internationale Gemeinschaft stehe bereit, ihnen zu helfen.