Taliban in Kandahar
AP/Sidiqullah Khan
Taliban in Kabul

„Krieg in Afghanistan ist vorbei“

Die radikalislamischen Taliban haben den Kampf um Afghanistan für beendet erklärt. „Der Krieg in Afghanistan ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. In Kürze werde feststehen, wie das Land künftig regiert wird. Man suche Frieden und Dialog. Die internationale Gemeinschaft forderte unterdessen die Möglichkeit zur sicheren und geordneten Ausreise.

Naim sagte, man versichere, dass man Staatsangehörige und diplomatische Vertretungen schützen werde. Die Taliban seien auch zum Dialog mit allen afghanischen Persönlichkeiten bereit und würden ihnen den notwendigen Schutz garantieren. Man sei daran interessiert, mit allen Beteiligten Frieden zu haben. Der Kontakt zu anderen Staaten werde gesucht, da man nicht in Isolation leben wolle. „Wir bitten alle Länder und Organisationen, sich mit uns zusammenzusetzen, um alle Probleme zu lösen.“

Die Taliban würden die Früchte ihrer Bemühungen und Opfer der vergangenen 20 Jahre ernten, so Naim weiter, „Freiheit und die Unabhängigkeit unseres Volkes“. Man wolle niemandem schaden und werde auch niemandem erlauben, von Afghanistan aus andere Ziele anzugreifen. Die Taliban würden sich nicht in die Angelegenheiten anderer Seiten einmischen und keine Einmischung in ihre Angelegenheiten zulassen. Am Sonntag nahmen die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul kampflos ein.

Alle ausländischen Streitkräfte müssten Afghanistan verlassen, bevor mit dem Umbau der Regierung begonnen werde, sagte ein Taliban-Führer, der namentlich nicht genannt werden wollte, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Es sei aber noch zu früh, um zu sagen, wie man die Regierung übernehmen werde. Er fügte hinzu, die Taliban-Kämpfer in Kabul seien angehalten, Zivilisten nicht zu verängstigen. Zudem solle den Menschen erlaubt werden, ihre normalen Tagesaktivitäten wieder aufzunehmen.

Evakuierungen gehen weiter

Unterdessen gehen die Evakuierungen und Ausreisen weiter – sofern überhaupt möglich. Laut NATO ist der Flughafen von Kabul für den zivilen Flugverkehr geschlossen, in der Nacht flogen laut Flightradar24 vereinzelt US-Militärmaschinen von Kabul ab. Große Fluggesellschaften wie United Airlines, British Airways und Virgin Atlantic erklärten, sie würden den Luftraum Afghanistans nicht mehr überfliegen.

Trotz der Zusicherung, friedlich vorgehen zu wollen, herrscht die Angst vor einem Terrorregime der Taliban. Zahlreiche Afghanen versuchen verzweifelt, das Land zu verlassen. Auf Videos und Bildern, die in sozialen Netzwerken geteilt werden, ist zu sehen, wie Hunderte Menschen, die zum Fughafen in Kabul gekommen sind, versuchen, an Flüge zu kommen. Auf dem Flughafen sitzen auch viele Angehörige westlicher Botschaften fest.

US-Militär sichert Flughafen

Das US-Militär übernahm die Sicherung des Flughafens, wo es teilweise zu tumultartigen Szenen kam. Berichten zufolge schossen US-Soldaten Warnschüsse in die Luft. Unbestätigten Meldungen zufolge sollen die Taliban Checkpoints eingerichtet haben. Am Montag berichteten Augenzeugen von mindestens fünf Toten. Die USA kündigten an, die Zahl ihrer Soldaten, die auf dem Flughafen die Ausflüge sichern sollen, binnen 48 Stunden um 1.000 auf 6.000 zu verstärken.

Menschenmenge auf dem Flughafen von Kabul beim Versuch, die Stadt zu verlassen
APA/AFP/Shakib Rahmani
Viele Menschen warten auf dem Flughafen in Kabul auf die Ausreise

Viele Staaten ziehen die Mitarbeiter ihrer Botschaften ab, darunter Deutschland, Tschechien und die Schweiz. Die USA haben ihr gesamtes Botschaftspersonal auf das Flughafengelände in Kabul gebracht. Offen ist, welche und wie viele Mitarbeiter noch in Kabul bleiben sollten. Auch afghanische Ortskräfte, die für fremde Staaten gearbeitet haben, werden ausgeflogen. Russland erklärte hingegen, man sehe derzeit keine Notwendigkeit, die Botschaft zu evakuieren. Die Türkei teilte mit, die Vertretung arbeite normal weiter.

Freie Ausreise gefordert

In einer gemeinsamen Erklärung forderten in der Nacht mehr als 60 Staaten die Möglichkeit zur sicheren und geordneten Ausreise aus Afghanistan. Afghanen und Afghaninnen sowie andere Staatsbürger, die das Land verlassen wollten, müssten das tun dürfen, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung, die das US-Außenministerium am Sonntagabend (Ortszeit) veröffentlichte. Dazu müssten Straßen, Flughäfen und Grenzübergänge offen bleiben. Dem US-Außenministerium zufolge zählen Deutschland, Kanada, Großbritannien, Österreich, Spanien und der EU-Außenbeauftragte zu den Unterzeichnern.

„Diejenigen, die in ganz Afghanistan Macht- und Autoritätspositionen innehaben, tragen die Verantwortung – und sind rechenschaftspflichtig – für den Schutz von Menschenleben und Eigentum sowie für die sofortige Wiederherstellung der Sicherheit und der zivilen Ordnung“, hieß es weiter. Das afghanische Volk habe ein Recht auf ein Leben in Sicherheit und Würde. „Wir in der internationalen Gemeinschaft sind bereit, sie dabei zu unterstützen.“

Kampflos in Kabul eingezogen

Die Taliban besetzten am Sonntag als Zeichen ihres Sieges den Präsidentenpalast, nachdem der afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land fluchtartig verlassen hatte. Der Politbürochef der Extremisten, Abdul Ghani Baradar, sagte in einer Videobotschaft, dieser unerwartete Erfolg sei beispiellos in der Welt. Nun aber folge die wirkliche Bewährungsprobe, nämlich die Erwartungen der Menschen zu erfüllen und ihre Probleme zu lösen.

Taliban vor dem afghanischen Präsidentschaftspalast
AP/Zabi Karimi
Kämpfer der Taliban auf dem Weg zum Präsidentenpalast

Es würden Gespräche über eine friedliche Machtübergabe laufen, so die Taliban am Sonntag. Ein Minister kündigte die Übergabe der Macht an eine Übergangsregierung an. Dem widersprachen die Taliban aber: Die Gruppe erwarte eine „vollständige Machtübergabe“, hieß es vonseiten ihrer Vertreter.

Ghani wollte Blutvergießen verhindern

Ghani, der sich Berichten zufolge in Usbekistan aufhalten soll, schrieb zur Begründung seiner Flucht, andernfalls wären zahlreiche Landsleute getötet und die Stadt Kabul zerstört worden. „Ich entschied mich zu gehen, um dieses Blutvergießen zu verhindern.“ Die Taliban hätten ihre Macht mit Waffengewalt errungen und seien nun dafür zuständig, die Leben, das Vermögen und die Ehre der Bürger zu schützen.

Dass Ghani Afghanistan verlassen hat, zog auch Kritik von Regierungsmitgliedern nach sich. Die afghanische Bildungsministerin Rangina Hamidi zeigte sich „entsetzt und ungläubig“. Der Vorsitzende des Nationalen Versöhnungsrates, Abdullah Abdullah, sagte: Der „Ex-Präsident“ habe in dieser Situation das Land verlassen, und Gott möge ihn zur Rechenschaft ziehen. „Sie haben uns die Hände hinter unserem Rücken gefesselt und das Land verkauft“, schrieb Verteidigungsminister Bismillah Khan Mohammadi auf Twitter ohne nähere Erläuterung.

UNO-Sicherheitsrat tagt

Der britische Premier Boris Johnson betonte unterdessen, dass man eine Taliban-Regierung nicht anerkennen werde. US-Präsident Joe Biden tauschte sich mit seinem nationalen Sicherheitsteam aus. Sein Außenminister Antony Blinken verteidigte den Abzug des US-Militärs aus Afghanistan.

Estland und Norwegen haben Diplomaten zufolge eine Sondersitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu Afghanistan beantragt. Das Gremium soll am Montag (Ortszeit) in New York zusammentreten. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres rief die Taliban und alle anderen Parteien zu größtmöglicher Zurückhaltung auf, um Leben zu schützen. Guterres fordere sie auf sicherzustellen, dass humanitäre Bedürfnisse gestillt werden könnten, sagte der Sprecher von Guterres.