Menschen stehen auf Flugzeug am Flughafen Kabul
APA/AFP/Wakil Kohsar
Tumulte auf Flughafen

Verzweifelte Fluchtversuche aus Kabul

Die verzweifelten Versuche Tausender Menschen, über den Flughafen von Kabul ins Ausland zu fliehen, sind am Montagnachmittag weitergegangen. Das Rollfeld wurde von Ausreisewilligen überrannt, obwohl die Aussicht auf eine Flucht vor den Taliban aussichtslos schien. Wegen der chaotischen Lage stoppten die USA, die den Flughafen sichern, zeitweise die Evakuierungsflüge.

Am Montag wurden zunächst noch eiligst Angehörige von Botschaften und ausländische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger vom Hamid-Karzai-Flughafen in Kabul ausgeflogen. Staaten aus Europa, die USA und auch Russland brachten Mitarbeiter in Sicherheit. Tausende Zivilisten versuchten ebenfalls verzweifelt, einen Platz in einer der Maschinen zu erhalten.

Manche standen auf Listen westlicher Länder und sollten geordnet evakuiert werden. Andere hatten Linienflüge gebucht und wollten so das Land verlassen. Zahlreiche fuhren ohne Ticket zum Flughafen, oder weil sie die unwahren Gerüchte gehört hatten, Kanada würde 20.000 Afghanen ausfliegen. Die Folge waren chaotische Szenen und Tumulte auf dem Flughafen. Mehrere Menschen wurden getötet. Zuletzt töteten US-Soldaten auf dem Flughafen zwei bewaffnete Männer. Sie hätten ihre Waffen „auf bedrohliche Weise geschwungen“, hieß es.

In sozialen Netzwerken gingen Bilder um, die zeigten, wie die Menschen auf das Rollfeld liefen und auf Maschinen kletterten. In Videos war auch zu sehen, wie Menschen aus beträchtlicher Höhe von einem Militärflugzeug fallen. Es wurde gemutmaßt, dass sich die Menschen im Bereich der Flugzeugräder der Militärmaschine versteckt hatten. Diese Angaben konnten nicht unabhängig verifiziert werden. Andere Bilder zeigten, wie Zivilisten eine bereits überfüllte und verbogene Stiege hinaufkletterten, um ein geparktes Passagierflugzeug zu besteigen.

Deutschland rechnet mit 10.000 Aufzunehmenden

Die USA setzten am Nachmittag alle Evakuierungsflüge vom Kabuler Flughafen zeitweise aus. Diese Maßnahme sei nötig, weil Menschen auf die Pisten gelaufen seien, sagte ein Mitglied der US-Armee Reuters. Einige Stunden später wurden die Flüge wieder aufgenommen.

Flucht vor Taliban

Nach der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban in Afghanistan versuchen viele Menschen, das Land zu verlassen. Auf dem Flughafen der Hauptstadt Kabul herrscht Chaos.

Auch ein Einsatz der deutschen Bundeswehr verzögerte sich deshalb. Das deutsche Verteidigungsministerium startete am Montag eine Luftbrücke, über welche deutsche Staatsbürger und besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen aus Kabul ausgeflogen werden sollen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sagte in einer internen Parteisitzung, inklusive den Angehörigen müssten bis zu 10.000 Menschen nach Deutschland in Sicherheit gebracht werden. Auch in Großbritannien, Kanada und weiteren Staaten gab es ähnliche Überlegungen.

Letzter Ausweg

Seit Sonntag meldeten sich laut Außenministerium rund 15 Österreicher, die sich noch in Afghanistan befinden und das Land so rasch wie möglich verlassen wollen. Das Außenministerium bemühe sich derzeit, die österreichischen Staatsbürger auf Evakuierungsflügen anderer europäischer Länder unterzubringen, um sie in Sicherheit zu bringen, so eine Sprecherin zur APA.

Die Möglichkeiten, das Land noch zu verlassen, schwinden allerdings von Stunde zu Stunde. Am Sonntag nahmen Taliban-Kämpfer den Grenzübergang Torkham zu Pakistan ein – den letzten Grenzübergang, der noch nicht unter ihrer Kontrolle war. Somit ist der Hamid-Karzai-Flughafen der letzte verbleibende Ausweg. Der Weg dorthin wurde bereits von den Taliban bei Checkpoints kontrolliert. Wie lange überhaupt noch Flüge ins Ausland starten können, ist unklar.

Menschen sitzen an offener Flugzeugtür am Flughafen Kabul
APA/AFP/Wakil Kohsar
Versuch einer Ausreise: Zivilisten erklommen eine Maschine der afghanischen Kam Air

Große Fluggesellschaften wie United Airlines, British Airways und Virgin Atlantic erklärten, sie würden den Luftraum Afghanistans nicht mehr überfliegen. Auch die AUA umfliegt nun den Luftraum. „Austrian Airlines setzt wie alle Lufthansa-Group-Airlines die Überflüge über Afghanistan bis auf Weiteres aus“, so eine Sprecherin am Montag auf APA-Anfrage.

Österreich für freie Ausreise

Die Machtübernahme durch die Taliban kam für viele überraschend schnell. Kritiker von US-Präsident Joe Biden erklärten, das Chaos sei durch seine schlechte Führung verursacht worden.

Die USA, Deutschland und rund 60 weitere Länder – darunter Österreich – forderten von den Taliban, dass Flughäfen und Grenzübergänge geöffnet bleiben müssten. Jeder Ausreisewillige müsse das Land auch verlassen dürfen. Die Machthaber in Afghanistan trügen die Verantwortung für den Schutz von Menschenleben und die sofortige Wiederherstellung von Sicherheit und bürgerlicher Ordnung.

Maas räumt Fehleinschätzung der Lage ein

Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) räumte indes eine falsche Lageeinschätzung in Afghanistan ein. „Es gibt da nichts zu beschönigen“, sagte Maas. Weder die deutsche Regierung noch ihre westlichen Partner einschließlich der Nachrichtendienste hätten die aktuelle Entwicklung so vorhergesehen. „Es gebietet die Ehrlichkeit, das in aller Form so einzugestehen.“

Maas betonte, dass alle Einschätzungen zur Lage in Afghanistan stets gemeinsam „auf der internationalen Bühne“ erfolgt seien. „Wir sind nach dem Abzug der Truppen ganz sicher nicht so weit gewesen einzuschätzen, dass die afghanischen Streitkräfte nicht bereit sind, sich den Taliban entgegenzustellen“, sagte er. „Das ist eine Fehleinschätzung gewesen von uns allen.“

Es komme jetzt für die Bundesregierung darauf an, so viele Menschen wie möglich zu retten. Dafür solle der Kreis derjenigen, die in Deutschland aufgenommen werden, noch einmal erweitert werden, unter anderen um Frauenrechtlerinnen und NGO-Personal, sagte der Außenminister. Noch unklar sei allerdings, wie diese Menschen unter den aktuellen Umständen zum Flughafen gelangen könnten.

Taliban wollen „Probleme lösen“

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen.

Chaos auf Flughafen von Kabul

Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan haben Hunderte Menschen auf dem Flughafen von Kabul versucht, einen Platz in einer Maschine zu erkämpfen, um aus dem Land zu fliehen.

Man wolle Frieden mit allen Beteiligten. Sorgen der internationalen Gemeinschaft wollten die Taliban im Dialog lösen. Der Kontakt zu anderen Staaten werde gesucht, da man nicht in Isolation leben wolle. „Wir bitten alle Länder und Organisationen, sich mit uns zusammenzusetzen, um alle Probleme zu lösen.“

Karzai verhandelt

Gespräche zwischen Politikern und Vertretern der Islamisten kommen ins Laufen, wie ein Sprecher des ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai der dpa am Montag sagten. In einem ersten Schritt habe man betont, dass das Leben und das Vermögen der Bevölkerung sowie die öffentliche Infrastruktur geschützt werden müssten, sagte der Sprecher weiter. Einen Kommentar von Taliban-Seite gab es dazu nicht. Nach der Flucht des Präsidenten Ashraf Ghani am Sonntag ist nach Angaben Karzais ein Koordinierungsrat für eine friedliche Übergabe der Macht gebildet worden. Es gab keine Angaben dazu, wo die Gespräche stattfinden und wer von Taliban-Seite daran teilnimmt. Es ist zudem insgesamt unklar, ob die Islamisten dazu bereit sind, nach ihrem rasanten militärischen Erfolg die Macht mit anderen Politikern im Land zu teilen.

Treffen mit Russland

Am Dienstag will der russische Botschafter mit einem Vertreter der Taliban in Kabul zusammentreffen. Es hänge eine mögliche Anerkennung einer Taliban-Regierung durch Russland von deren „Verhalten“ ab. Die Regierung in Moskau werde das Handeln der neuen Machthaber genau beobachten und dann eine Entscheidung treffen, hieß es. Es gebe Arbeitskontakte zwischen Russland und den neuen Machthabern in Afghanistan. Auch China pflegt Kontakte zu den Taliban. Peking rief die Taliban am Montag zur friedlichen Machtübernahme auf. Man sei nach der Eroberung von Kabul durch die Taliban zu „freundlichen Beziehungen“ bereit.

Frau und Kinder sitzen am Rollfeld am Flughafen Kabul
APA/AFP/Wakil Kohsar
Die Chancen auf eine Ausreise schwinden von Stunde zu Stunde

Guterres ruft zur Flüchtlingsaufnahme auf

Die Lage in Afghanistan war am Montag auch Thema im UNO-Sicherheitsrat. Generalsekretär Antonio Guterres rief die Taliban und alle anderen Parteien zu größtmöglicher Zurückhaltung auf, um Leben zu schützen. Er fordere sie auf, sicherzustellen, dass humanitäre Bedürfnisse bedient werden könnten. Die Vereinten Nationen seien weiterhin entschlossen, zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts beizutragen, die Menschenrechte aller Afghanen, insbesondere die von Frauen und Mädchen, zu fördern und lebensrettende humanitäre Hilfe und wichtige Unterstützung für Zivilisten in Not zu leisten. Guterres rief auch die internationale Gemeinschaft auf, Geflüchtete aus Afghanistan aufzunehmen und von Abschiebungen abzusehen.

Auch die Außenministerinnen und -minister der Europäischen Union werden am Dienstag bei einer Krisensitzung über die Lage in Afghanistan beraten. „Afghanistan steht an einem Scheideweg. Die Sicherheit und das Wohlergehen seiner Bürger sowie die internationale Sicherheit stehen auf dem Spiel“, so der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.