Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid
APA/AFP/Hoshang Hashimi
Taliban-Inszenierung

„Das ist alles nur Show“

Der Siegeszug der radikalislamischen Taliban in Afghanistan hat eine Welle des Schreckens im Land ausgelöst. Die Taliban-Führung in Kabul zeigt sich unterdessen bemüht, ein sanfteres Bild abzugeben als noch während ihrer Herrschaft vor 20 Jahren. Was steckt da dahinter? Im ORF.at-Interview sprechen die Journalisten und Afghanistan-Experten Emran Feroz und Hasnain Kazim über die PR-Offensive der militanten Islamisten und darüber, was die Bevölkerung nun erwartet.

Hinrichtungen, Zwangsverheiratungen und strukturelle Gewalt gegen, aber auch Unterdrückung von Frauen standen unter der Taliban-Herrschaft in Afghanistan von 1996 bis 2001 an der Tagesordnung. Furcht vor Repressalien wurde für viele Menschen im Land zum täglichen Begleiter. Dementsprechend groß war und ist die Angst im Land auch bis heute noch. Bilder, wie jene der afghanischen Journalistin Beheshta Arghand, die einen Taliban-Vertreter interviewt, überraschen dieser Tage daher sehr.

Als die Taliban vor 20 Jahren an der Macht waren, sei so etwas noch nicht möglich gewesen, heißt es von Beobachtern mit Verweis auf das rigide Frauenbild der Islamisten. Generell geben sich die Taliban, die mit der Scharia eine sehr strikte Auslegung des islamischen Rechts durchsetzen wollen, moderater als damals. Frauen sollen – anders als unter der Herrschaft um die Jahrtausendwende – weiterhin Schulen und Unis besuchen dürfen, auch das Tragen der Burka werde nicht erwartet, ein Hijab aber schon.

„Wir wollen keine Feinde“

Doch da endet die scheinbare Milde der Islamisten nicht: Sie riefen eine allgemeine Amnestie für jene, die in Opposition zu ihnen gestanden hätten, für Übersetzer ausländischer Streitkräfte und Soldaten, die gegen sie gekämpft haben, aus. Sie baten Regierungsbeamte, auch Frauen, zu ihren Arbeitsstellen zurückzukehren. Von vielen befürchtete Racheakte solle es nicht geben. „Wir wollen keine Feinde im In- oder Ausland“, hieß es auf einer Pressekonferenz. Zweifel und Angst in der Bevölkerung bleiben aber bestehen – aus gutem Grund.

Übermalen eines Werbefotos in Kabul
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Frauenbilder werden übermalt: Die Bewohner Kabuls bereiteten sich vor Eintreffen der Taliban auf die neue Lebensrealität vor

Sein oder Schein?

Die Vermutung, dass es sich dabei um eine lang geplante PR-Offensive handelt, liegt freilich nahe. „Das ist alles nur eine Show, ein Theater, das die da aufführen, um der Weltöffentlichkeit etwas vorzugaukeln“, sagt auch Kazim, der Afghanistan in seiner Zeit als Südasienkorrespondent des „Spiegels“ (2009–2013) viele Male besucht hatte und nach wie vor regen Kontakt mit Menschen im Land pflegt, gegenüber ORF.at. „Die Taliban haben sich in den vergangenen 20 Jahren ja nicht verändert“, so Kazim.

Eine „Reformbewegung“ oder Erkenntnis, dass man sich der Welt anpassen müsse, gebe es nicht. Ihre Auslegung von Religion sei in „Stein gemeißelt“ und unabänderlich. Dass die Taliban dem Westen etwas vormachen, hätte sich etwa auch im Zuge der Friedensverhandlungen in Doha 2020 gezeigt, wo die Taliban dem Westen „das Blaue vom Himmel“ versprochen haben, während ihre Offensive in Afghanistan samt Hinrichtungen zeitgleich weiterlief.

Experte: „Anderes Bild“ vor den Toren Kabuls

Nach Ansicht des austroafghanischen Journalisten Feroz gelte es, jetzt zwei Dinge zu beachten. Einerseits müsse man abwarten, wie sich die Lage entwickelt. „Zweitens lohnt sich ein Blick in die Gebiete abseits von Kabul, die zum Teil schon länger von den Taliban kontrolliert werden – da zeichnet sich teils ein anderes Bild“, so Feroz gegenüber ORF.at.

Anders als etwa in Kabul, wo die Lage nach der Machtübernahme der Taliban – mit Ausnahme der Flughafengegend – und wohl aufgrund der Präsenz westlicher Journalisten beruhigter, wenn auch angespannt scheint, kam es in „Dörfern sehr wohl zu Menschenrechtsverbrechen, zu Repressalien gegenüber Frauen und auch zu Racheaktionen“, so der Journalist, der sich ebenso stets im Austausch mit Afghaninnen und Afghanen in mehreren Landesregionen befindet. „Es gibt allerdings auch Dörfer, in denen die Taliban ihre eigenen Töchter in Mädchenschulen schicken.“

Berichte über Menschenrechtsverletzungen

Feroz selbst beschäftigt sich aktuell mit dem Fall eines ehemaligen Regierungsoffiziellen – eines jungen Gouverneurs – aus der Provinz Laghman, der sich immer noch in Taliban-Haft befinde, obwohl die Taliban Regierungsmitarbeitern eigentlich Amnestie versprochen hatten. Dessen Verwandte befürchten nun eine voreilige Hinrichtung ohne Prozess. Die Erzählungen decken sich auch mit jenen, auf die sich die UNO erst kürzlich bezog. So würden Massenhinrichtungen sowie Attacken auf Kliniken, Wohnhäuser und Zivilisten gemeldet.

Am Mittwoch kursierten überdies Gerüchte, wonach die Taliban in der Provinz Bamiyan eine Statue eines schiitischen Militärkommandanten, der in den 90ern gegen sie gekämpft hatte, gesprengt hätten. Bereits 2001 hatten sie für Schlagzeilen gesorgt, weil sie zwei 1.500 Jahre alte Buddha-Statuen zerstörten. Zudem soll zuletzt in den Städten Jalalabad und Asadabad auf friedliche Demonstrierende geschossen worden sein, wobei Berichten zufolge mehrere Menschen ums Leben kamen. In sozialen Netzwerken werden vielfach Videos verbreitet, die jüngste Racheakte der Taliban festhalten sollen. Offizielle Bekenntnisse dazu gibt es nicht.

Islamisten mit diplomatischer Mission

Die Taliban hätten seit ihrer Schreckensherrschaft 1996 bis 2001 jedenfalls viel Medienarbeit geleistet und dazugelernt – es gebe leichteren Zugang zu ihren Vertretern sowie eine große PR-Kampagne, die schon seit Längerem läuft, hält Feroz fest. Auch befänden sich die Taliban seit Jahren auf diplomatischer Mission. Das Taliban-Büro in Katar wurde 2013 eröffnet. „Seitdem pflegen sie gute Beziehungen – etwa zum Iran, Russland, China und Pakistan“, so der Journalist.

Nicht zuletzt bei westlichen Staaten haben die Islamisten an Legitimität gewonnen. Das zeigt nicht nur das Abkommen mit den USA 2020 ohne Teilnahme der damaligen afghanischen Regierung, mit dem der US-Abzug aus Afghanistan eingeläutet wurde. „Es kann sein, dass diese Taliban anders sind als die, an die sich die Menschen in den 1990er Jahren erinnern“, sagte zuletzt selbst der britische Armeechef Nick Carter.

Interview mit dem österreichisch-afghanischen Journalisten Emran Feroz

„Vor uns muss sich niemand fürchten“, sagen die Taliban. In der ZIB2 ist dazu Emran Feroz, Journalist und Buchautor.

Taliban von ausländischen Hilfen abhängig

Doch was ist das Kalkül hinter der islamistischen Charmeoffensive? „Die Taliban wissen, dass sie als Staat, dass Afghanistan als Staat ohne ausländische Hilfe nicht überlebensfähig ist“, so Feroz. Ähnlich die Einschätzung von Kazim: Mit der „Show“ wolle man dafür sorgen, dass „der Westen vor allen Dingen bei der Stange gehalten wird und weiter Geld zahlt“, wenngleich die Taliban als „finanziell starke Organisation“ eigentlich gar nicht darauf angewiesen seien.

Tatsächlich zählt Afghanistan mit seinen 38 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zu den ärmsten Ländern der Welt, 14 Mio. Menschen leiden laut Angaben des Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) Hunger. Trotz seiner lukrativen Bodenschätze, die wegen der instabilen Sicherheitslage bisher nicht abgebaut werden konnten, das Land aber für Nachbarländer wie China und Indien interessant machte, ist Afghanistan daher stark von internationaler Hilfe abhängig. Und für Staaten, die Hilfsgelder fordern, schickt es sich nicht, mit Massenhinrichtungen zu prahlen.

Warnung vor „riesigem Motivationsschub“

„Die Taliban haben den Krieg gewonnen, also werden wir mit ihnen reden müssen“, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell dazu zuletzt. Die Zusammenarbeit mit einer künftigen afghanischen Regierung will die EU unter anderem davon abhängig machen, ob die Grundrechte aller Menschen im Land gewahrt werden.

Ähnlich der Wunsch von Kazim, der hofft, dass sich derartige Verhandlungen künftig nur auf das Nötigste – eben Hilfszahlungen und Visaregelungen – beschränken. Westliche Staaten sollten solche Gespräche auch dafür nützen, um in puncto Wahrung der Menschenrechte Druck auszuüben, sagt er.

Der Journalist und Autor ist davon überzeugt, dass der Triumph der Taliban Islamisten weltweit beflügeln werde. „Das, was die Taliban erreicht haben, das muss man so benennen, das ist ein militärischer Sieg über den Westen und die afghanische Armee“, so Kazim. „Das ist ein riesiger Motivationsschub für Dschihadisten und Islamisten in der ganzen Welt und vor allem in dieser Region.“