Dutzende Personen auf dem Weg zu einem Militärflugzeug auf dem Flughafen Kabul
APA/AFP/
Afghanistan

Evakuierung aus Kabul nimmt Fahrt auf

Nach stockendem Beginn gewinnt die Rettung von westlichen Ausländerinnen und Ausländern und deren Helfern aus Afghanistan allmählich an Fahrt. Eine zweite Maschine der deutschen Bundeswehr konnte am Dienstag in Kabul landen und brachte 125 Deutsche, Afghanen und Angehörige anderer Nationen außer Landes. Weitere Flüge waren geplant – auch wollte die Lufthansa Passagiere im usbekischen Taschkent übernehmen.

Von Taschkent sollen die Passagiere nach Frankfurt geflogen werden. Man arbeite mit Hochdruck daran, dass weitere Menschen in Sicherheit gebracht würden, sagte der deutsche Außenminister Heiko Maas. Die Lage auf dem Flughafen habe sich stabilisiert. Am Montagabend war die erste Bundeswehrmaschine gelandet, mit der zunächst nur sieben Menschen ausgeflogen wurden.

Das US-Militär hat seit Montag 700 bis 800 Menschen aus Kabul ausgeflogen, wie der Sprecher des Verteidigungsministeriums, John Kirby, am Dienstag dem Sender CNN sagte. Sobald Sicherheit und Ordnung auf dem Flughafen komplett hergestellt seien, könne das US-Militär 5.000 bis 9.000 Menschen pro Tag ausfliegen. Es seien schätzungsweise noch 5.000 bis 10.000 US-Amerikaner in und um Kabul.

4.000 US-Soldaten auf Flughafen

Wie das Pentagon am Dienstag mitteilte, fliegen US-Militärmaschinen und einige zivile Flugzeuge den Flughafen von Kabul an und von dort ab. Generalmajor William Taylor vom Führungsstab der US-Armee sagte, dass bis zum Ende des Tages mehr als 4.000 US-Soldaten an Ort und Stelle sein würden und dass es bisher keine feindlichen Interaktionen mit den Taliban gegeben habe. Laut den USA helfen auch 500 bis 600 afghanische Soldaten bei der Sicherung des Flughafens.

Hunderte Menschen in einem Transportflugzeug der U.S. Air Force in Kabul
Reuters/DEFENSE ONE
Hunderte Menschen in einem Transportflugzeug der US-Luftstreitkräfte auf dem Flughafen in Kabul

US-Kommandeure auf Flughafen in Kontakt mit Taliban

Nach Angaben des Pentagons stehen die Kommandeure der US-Truppen auf dem Flughafen Kabul in Kontakt mit den Taliban-Kämpfern außerhalb des Flughafengeländes. Es habe Gespräche gegeben, und „es gibt zwischen ihnen und uns eine Kommunikation“, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Kirby, am Dienstag. Solche Kontakte gebe es mehrmals pro Tag.

Auch ein zweiter Evakuierungsflug der tschechischen Armee verließ am Dienstag Kabul. An Bord seien neben Botschafter Jiri Baloun und tschechischen Soldaten auch afghanische Ortskräfte mit ihren Familien, teilte Verteidigungsminister Lubomir Metnar bei Twitter mit. Zuletzt hatten schon Frankreich, Großbritannien, Türkei und Italien Flüge durchgeführt.

Evakuierungen aus Kabul wieder angelaufen

Nach den chaotischen Szenen auf dem Flughafen von Kabul mit mehreren Toten gibt es wieder Evakuierungsflüge für westliche Staatsbürger.

Auch das österreichische Außenministerium schickt ein Krisenteam, um jene Österreicher, die sich noch im Land befinden, bei der Ausreise zu unterstützen. Das kündigte Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) am Dienstag an. Rund 25 Österreicher und rund 20 Afghanen mit gültigem Aufenthaltstitel in Österreich hätte sich in den vergangenen 72 Stunden gemeldet und um Hilfe bei der Ausreise gebeten. Zur Evakuierung gebe es bereits „ein konkretes Hilfsangebot unserer deutschen Freunde“.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell teilte weiters mit, dass rund 400 Visa für afghanische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von EU-Delegationen und EU-Missionen genehmigt worden seien. Man sei sich der schwierigen Lage in Afghanistan bewusst und unternehme alles, um diese Menschen sowie deren Familien außer Landes bringen zu können. Das gelte auch für weitere Menschen aus der Zivilgesellschaft wie Journalistinnen und Journalisten oder Intellektuelle.

Taliban erschweren Flug ins Ausland

Während sich die Lage auf dem Flughafen beim Ausfliegen von diplomatischem Personal und Zivilpersonen in die jeweiligen Länder am Dienstag beruhigt hat, häufen sich offenbar die Probleme, will man überhaupt auf den Flughafen gelangen – vor allem für Afghaninnen und Afghanen. Die radikalislamischen Taliban versuchen laut Berichten den Flughafen abzuriegeln.

Laut dem deutschen Außenminister Heiko Maas (SPD) hätten die Taliban überall in Kabul Kontrollpunkte errichtet und ließen nur ausländische Staatsbürger zum Flughafen durch. Das hindere Ortskräfte an der Ausreise.

USA deuten Einigung an

Allerdings deuteten die USA an, dass die Taliban zugesagt hätten, Zivilisten unbehelligt zum Flughafen zu lassen. Der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, sagte am Dienstag im Weißen Haus, man gehe davon aus, dass die Zusage bis zum Monatsende gelte, man spreche über den genauen Zeitplan und Ablauf aber mit den Taliban. „Ich will nicht öffentlich verhandeln“, so Sullivan.

Derzeit bemühen sich zahlreiche westliche Länder, ihre Staatsbürger und Ortskräfte, für die Racheaktionen der Taliban befürchtet werden, aus dem Land in Sicherheit zu bringen. Es ist allerdings unklar, ob die Personen, die in Sicherheit gebracht werden sollen, überhaupt auf das Flughafengelände gelangen können.

CNN: Taliban-Kämpfer bezogen Stellung vor Flughafen

Der US-Sender CNN berichtete, Taliban-Kämpfer hätten in Humvees vor dem Flughafen Stellung bezogen und würden versuchen, die Menschenmassen rund um den Flughafen zu kontrollieren. Auf von CNN gezeigten Videos war zu sehen, wie Menschen versuchen, durch Tore oder über mehr als drei Meter hohe Sprengschutzmauern auf den Flughafen zu gelangen. Es gibt unbestätigte Berichte, dass die Taliban sie zurückdrängen. Ortskräfte haben Angst, auf dem Weg zum oder vor dem Flughafen von den Taliban kontrolliert zu werden. Sie erklärten, sie müssten Dokumente mitführen, die eine Berechtigung zur Evakuierung belegten.

Menschenmenge am Flughafen von Kabul
AP/Shekib Rahmani
Am Montag kam es zu einem Andrang von Menschen auf dem Flughafen in Kabul

Landebahn und Rollfeld nun frei

Laut den Angaben des Sicherheitsbeamten sind die Landebahn und das Rollfeld des Flughafens nun frei von Menschenmassen, die noch am Montag verzweifelt den Flughafen belagert hatten, um aus der afghanischen Hauptstadt zu fliehen. Die Start- und Landebahn ist auch nach Angaben eines NATO-Vertreters wieder geöffnet.

Der zivile Repräsentant der NATO in Afghanistan, Stefano Pontecorvo, schrieb am Dienstag auf Twitter, er sehe Flugzeuge landen und abheben. Zuletzt war der Flugverkehr eingestellt, da sich Menschentrauben auf dem Flugfeld aufhielten.

Europa muss laut EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni einen Korridor für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Afghanistan schaffen. „Ich glaube, dass Europa sich unweigerlich für humanitäre Korridore und eine organisierte Aufnahme rüsten muss“, sagte er der Zeitung „Il Messaggero“. „Zumindest sollten die Länder, die dazu bereit sind, das tun.“ Das sei auch notwendig, um einen Zustrom von illegal Einwandernden zu verhindern.

Rotes Kreuz bleibt in Afghanistan

Das Rote Kreuz bzw. der Rote Halbmond werden weiter in Afghanistan präsent sein, um den Menschen zu helfen. „Diese Hilfe ist auch dringend nötig“, so der Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes, Michael Opriesnig, am Dienstag in einer Aussendung. Nicht nur der aktuelle Konflikt, „auch extreme Dürre und Corona machen dem Land zu schaffen, das jetzt plötzlich im Zentrum der Medienöffentlichkeit steht“.

Fast elf Millionen Menschen, also etwa ein Drittel der Bevölkerung, hätten schon bisher dringend Hilfe benötigt. „Es gibt zu wenig Nahrung und Wasser. Wir stehen vor einer Riesenherausforderung“, so Opriesnig. Die Klimaerwärmung verschärfe die Situation. Der Weizenertrag sei stark gesunken, viele Nutztiere drohten zu verenden. Und das in einem Land, in dem 80 Prozent der Afghanischen Bevölkerung von Landwirtschaft und Tierhaltung leben: „Zehntausende Familien mussten ihre Dörfer deshalb bereits verlassen. Dazu kommen etwa 390.000 Vertriebene durch den Konflikt“, so Opriesnig.

„Wir wollen keine Feinde im In- oder Ausland“

Die Taliban verkündeten unterdessen eine Generalamnestie für alle afghanischen Regierungsmitarbeiter. Die Dschihadisten forderten die Beamten am Dienstag auf, zu ihrem Arbeitsplatz zurückzukehren. „Sie sollten mit vollem Vertrauen in Ihren Alltag zurückkehren“, hieß es in einer Erklärung der Taliban. Bei der ersten Pressekonferenz der Taliban nach ihrer Machtübernahme sagte Sprecher Sabihullah Mudschahid, das „islamische Emirat“ hege keinen Groll gegen irgendjemanden. „Wir wollen keine Feinde im In- oder Ausland.“

Der Vizechef der Taliban wies seine Kämpfer an, keine Privathäuser in Kabul zu betreten. Unter keinen Umständen sollte irgendjemand in die Häuser von Menschen gehen oder ihre Fahrzeuge mitnehmen, hieß es in einer vom lokalen TV-Sender ToloNews veröffentlichten Audionachricht, die dem Taliban-Vizechef Mullah Yaqub zugeschrieben wurde. Das sei ein „Verrat am System“, und man werde die Person zur Rechenschaft ziehen.