Treffen der EU-Außenminister in Brüssel
AP/Johanna Geron
EU-Beratungen

„Werden mit Taliban reden müssen“

Die EU wird nach Einschätzung ihres Außenbeauftragten Josep Borrell einen Dialog mit den neuen Machthabern in Afghanistan aufnehmen müssen. „Die Taliban haben den Krieg gewonnen, also werden wir mit ihnen reden müssen“, sagte er am Dienstagabend nach einer Videokonferenz der EU-Außenminister.

„Es geht nicht darum, sie offiziell anzuerkennen. Es geht darum, sich mit ihnen zu befassen.“ In einem ersten Schritt sei es wichtig, Bedingungen auszuhandeln, damit europäische Bürgerinnen und Bürger sowie afghanische Ortskräfte, die für die EU gearbeitet haben, das Land sicher verlassen können.

Borrell unterstrich auch, dass Verhandlungen zur Vermeidung einer humanitären Notlage und einer möglichen Migrationskrise notwendig seien. „Wir müssen sicherstellen, dass die neue politische Situation in Afghanistan (…) nicht zu einer massiven Migrationsbewegung nach Europa führt“, so Borrell. Zudem soll verhindert werden, dass Afghanistan erneut zu einem Rückzugsort für internationale Terroristen werden kann.

Evakuierungen aus Kabul nehmen Fahrt auf

Nach stockendem Beginn gewinnt die Rettung von westlichen Ausländerinnen und Ausländern und deren Helfern aus Afghanistan allmählich an Fahrt.

Bedingungen für Zusammenarbeit

In einer Erklärung aller 27 Mitgliedstaaten zu dem Treffen wurde zudem betont, dass die Zusammenarbeit mit einer künftigen afghanischen Regierung von einer ganz Reihe von Faktoren abhängig sein wird. Konkret genannt wurden dabei unter anderem die Achtung der Grundrechte aller Afghanen und speziell der Afghaninnen, Jugendlichen und Angehörigen von Minderheiten.

Der Bevölkerung des Landes sicherte die EU zugleich eine Fortsetzung von humanitärer Hilfe zu. Man fordere alle Akteure dazu auf, sicheren und ungehinderten Zugang zu dieser Unterstützung zu gewähren. Die Zahlung von Entwicklungsgeldern wurde hingegen vorläufig auf Eis gelegt, bis die Lage geklärt sei.

USA erwägen diplomatische Präsenz

Am Abend wurde bekannt, dass die G-7-Staaten für kommende Woche Gespräche anberaumt haben. Auch in den USA laufen bereits Beratungen über den künftigen Umgang mit den Taliban. Bereits am Dienstag hieß es, dass eine diplomatische Präsenz in der afghanischen Hauptstadt Kabul auch nach dem Abschluss des Truppenabzugs aus dem Land erwogen werde. „Wenn es sicher und verantwortungsvoll ist, potenziell länger zu bleiben, dann können wir uns das womöglich ansehen“, sagte der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, am Dienstag.

Die USA hatten angesichts des Einmarschs der radikalislamischen Taliban in Kabul ihre Botschaft evakuiert. Ein Diplomatenteam befindet sich seitdem auf dem von US-Soldaten gesicherten Flughafen der afghanischen Hauptstadt. Zudem befinden sich die USA neben Deutschland in laufenden Verhandlungen über die Evakuierung von Zivilisten und Zivilistinnen. Zuvor hatte es Berichte gegeben, dass die Taliban den Zugang zum Flughafen in Kabul blockierten.

Menschenmenge am Flughafen von Kabul
AP/Shekib Rahmani
Am Montag kam es zu einem Andrang von Menschen auf dem Flughafen in Kabul

Verhandlungen über Flughafenzugang

Dazu teilten die USA mit, dass die Taliban zugesagt hätten, Zivilisten unbehelligt zum Flughafen zu lassen. Der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, sagte am Dienstag im Weißen Haus, man gehe davon aus, dass die Zusage bis zum Monatsende gelte, man spreche über den genauen Zeitplan und Ablauf mit den Taliban.

„Ich will nicht öffentlich verhandeln. Ich arbeite daran, die beste Methode zu finden, um die meisten Menschen auf möglichst effiziente Weise herauszubekommen“, sagte Sullivan. Der Sicherheitsberater wies weiters darauf hin, dass ein „ordentlicher Anteil“ der Waffen und Ausrüstung der afghanischen Sicherheitskräfte an die Taliban gefallen seien. „Und wir haben natürlich nicht den Eindruck, dass sie diese bereitwillig auf dem Flughafen an uns übergeben werden.“

Die USA hatten die afghanischen Sicherheitskräfte jahrelang ausgerüstet. Die Sicherheitskräfte als zusammenhängende Organisation gebe es nun nicht mehr, die Taliban hätten das Gewaltmonopol. Trotzdem verteidigte Sullivan erneut den Abzug der USA. Die USA hätten 20 Jahre lang ihr Blut, ihren Schweiß, ihre Tränen für das Land gegeben und die Afghanen ausgebildet und ausgerüstet, irgendwann hätte das Land selbst für sich kämpfen müssen.

Ringen um Evakuierung

Die Evakuierungen von Ausländern und Ortskräften aus Kabul sind weiter im Gange. So landete Mittwochfrüh der dritte deutsche Evakuierungsflug in Frankfurt. Die Maschine mit 139 Menschen an Bord war zuerst nach Taschkent in Usbekistan geflogen und von dort nach Deutschland. Dänemark bot indes an, anderen Nationen bei der Rettung ihrer Staatsangehörigen zu helfen, sobald man die eigenen Bürger und Ortskräfte in Sicherheit gebracht habe.

Menschen vor dem Flughafen in Kabul
AP
Auch am Dienstag versammelten sich die Menschen in Hoffnung auf eine Ausreise vor dem Flughafen

Nach wie vor dürfte die Lage auf dem Flughafen höchst angespannt sein, der deutsche Außenminister Heiko Maas berichtete am Dienstagabend von „geschlossenen Toren“. Am Montag hatten sich zahllose Menschen auf dem Flughafen versammelt und versucht, mit allen Mitteln das Land zu verlassen. Dabei entstanden gefährliche Situationen, mehrere Menschen starben. Am Dienstag teilte die US-Luftwaffe mit, es sei eine Leiche im Radkasten eines Flugzeugs entdeckt worden. Der Vorfall werde untersucht.

In westlichen Ländern mehren sich Zweifel, dass möglichst alle Ortskräfte noch aus dem Land gebracht werden können. In den USA wurden Angaben von Regierungsvertretern angezweifelt, es könnten bis zu 22.000 Afghaninnen und Afghanen evakuiert werden. Um das zu erreichen, müssten „zu viele Dinge hundertprozentig klappen“, sagte ein US-Offizieller zu Reuters.

Viele westliche Nationen stehen wegen der Übernahme der Hauptstadt Kabul durch die Taliban vor dem Problem, wie ihre afghanischen Ortskräfte zum Flughafen kommen können. Die Taliban haben Checkpoints auf allen Zufahrtswegen eingerichtet und durchsuchen die Menschen, die zum Flughafen wollen. Viele Afghanen fürchten um ihr Leben, wenn sie von den Dschihadisten als ehemalige Mitarbeiter ausländischer Organisationen erkannt werden.

Außenministerium in Kontakt mit 45 Personen

Das österreichische Außenministerium steht im Kontakt mit 45 Menschen, die sich noch in Afghanistan befinden. Es handelt sich um 25 österreichische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, dazu 20 Personen mit österreichischem Aufenthaltstitel. Der Großteil dieser Personen halte sich im Großraum Kabul auf. Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hatte die Entsendung eines Krisenteams nach Afghanistan angekündigt. Es werde daran gearbeitet, die Leute aus dem Land zu bringen.

Rückholhilfe für 45 Personen

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hat am Donnerstag vor einem Treffen der EU-Außenminister die Entsendung eines Krisenteams nach Afghanistan angekündigt. Dieses soll die Rückholung von 45 Menschen nach Österreich vorantreiben. Die Lage im Land bezeichnete Schallenberg als „Fiasko, das uns alle betrifft“.

Schallenberg hatte sich im Vorfeld der EU-Beratungen zur Lage geäußert. Er betonte ebenfalls, dass Verhandlungen vom Verhalten der islamistischen Gruppierung abhängen würden. Man werde diese an klare Bedingungen knüpfen, einen „Blankoscheck“ dürfte es nicht geben. Voraussetzung für eine Gesprächsbasis mit der EU seien die Einhaltung und Anerkennung der Rechte aller Menschen in Afghanistan, insbesondere der Frauen.

„Zurechnungsfähiges Gegenüber“

„Wir wollen die Partnerschaft mit dem afghanischen Volk fortsetzen. Das setzt aber voraus, dass wir ein vernünftiges und zurechnungsfähiges Gegenüber haben“, so Schallenberg. Man müsse jedenfalls vermeiden, dass Afghanistan zum „Inkubator“ für Terroristen werde.

Die Lage im Land bezeichnete Schallenberg als „Fiasko, das uns alle betrifft“. Grundsätzlich pocht die Regierung weiter auf ihre Linie „Hilfe vor Ort“. Schallenberg kündigte drei Millionen Euro aus dem Auslandskatastrophenfonds für humanitäre Hilfe an und forderte eine enge Einbindung der afghanischen Nachbarstaaten. Die Hilfe müsse dort beginnen. Man wollte die Fehler von 2015 nicht wiederholen, stehe aber heute geeinter zusammen, so Schallenberg.

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) forderte vor den Beratungen der EU-Innenminister am Mittwoch gegenüber der deutschen „Welt“ (Mittwoch-Ausgabe), die Nachbarstaaten Afghanistans bei der Aufnahme von Flüchtlingen in die Pflicht zu nehmen. „Das heißt, oberste Priorität ist jetzt, mit den Nachbarländern von Afghanistan zu reden, damit Schutz und Hilfe in der Region sichergestellt ist – ganz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Abschiebezentren in der Region rund um Afghanistan wären eine Möglichkeit,“ so Nehammer: „Es gibt keinen Grund, warum ein Afghane jetzt nach Österreich kommen sollte.“