Innenminister Karl Nehammer (ÖVP)
APA/Hans Punz
Afghanistan

„Großteil der Menschen in Region halten“

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) hat am Mittwoch vor einem Sondertreffen der EU-Minister zu Afghanistan dafür plädiert, dass die Union bei der Hilfe für Flüchtlinge vor allem in den Nachbarstaaten Afghanistans tätig wird. „Ziel muss es sein, den Großteil der Menschen in der Region zu halten“, so Nehammer. Anhaltende „Abschiebungen“ von afghanischen Bürgern in sichere Staaten verteidigte er als Signal.

Die Situation in Afghanistan sei „dramatisch“, die EU dürfe sich aber nicht in eine Situation wie 2015 begeben. Nehammer forderte daher, dass die EU vor allem „Hilfe vor Ort“ leistet. Es brauche Unterstützung für die Nachbarländer, um Flucht und Migration aufzufangen. Er kündigte Hilfsgelder über drei Millionen Euro an.

Dazu erneuerte Nehammer die seit Jahren kontrovers diskutierte Forderung nach „Außenanlandeplattformen“ bzw. „Abschiebezentren“ außerhalb der EU. Diese könnten dabei helfen, die Vermischung von Migration und Asyl zu vermeiden und den EU-Staaten Rechtssicherheit zu geben, so Nehammer. Für die EU forderte er auch einen stärkeren Außengrenzschutz. Die Lage in Afghanistan biete Terroristen die Chance, unbemerkt in die EU zu kommen.

ÖVP weiter gegen Abschiebestopp

Nehammer sprach sich am Mittwoch einmal mehr gegen einen Abschiebestopp afghanischer Staatsbürger aus.

Abschiebestopp „falsches Signal“

Hilfe in den Nachbarstaaten sei die sinnvollste Hilfe und entspreche zudem „dem Geist der Genfer Flüchtlingskonvention“. Man müsse den Nachbarstaaten zeigen, dass es „wertvoll ist, die Hilfe zu leisten“. Es sei in den Nachbarstaaten zudem noch „deutlich Luft nach oben“, was die Aufnahme der Schutzsuchenden betrifft.

Weitere Aufnahmen in Österreich lehnte Nehammer mit Verweis auf die bestehende afghanische Community ab, die er mit 44.000 Personen bezifferte. Zudem betonte er erneut, dass es in Österreich keinen Abschiebestopp für afghanische Menschen geben werde. Ein solcher würde ein falsches Signal senden und Schleppern in die Hände spielen.

Im Grunde gibt es allerdings bereits einen Abschiebestopp. Denn sowohl rechtlich als auch faktisch können Personen derzeit nicht nach Afghanistan abgeschoben werden. Nehammer selbst sagte zuletzt immer, dass geltendes Recht durchzusetzen sei – insbesondere durch die Abschiebung krimineller Asylwerber. „Wenn Abschiebungen aufgrund der Grenzen, die uns die Europäische Menschenrechtskonvention setzt, nicht mehr möglich sind, müssen Alternativen angedacht werden“, sagte Nehammer.

Überstellung und Abschiebung

Nehammer hatte sich in den vergangenen Tagen vehement gegen einen Abschiebestopp für Menschen aus Afghanistan ausgesprochen, stattdessen sollten diese offenbar verstärkt in andere Staaten „abgeschoben“ werden. Erst am Dienstag hatte das Innenministerium mitgeteilt, dass vier Afghanen nach Rumänien „abgeschoben“ wurden.

Tatsächlich handelt es sich hierbei allerdings um Überstellungen nach der Dublin-Verordnung. Im Gegensatz zu einer Abschiebung, die nach einer inhaltlichen Prüfung der Fluchtgründe angeordnet wird, regelt die Dublin-Verordnung, welcher Staat für die Prüfung des Asylantrags einer Person zuständig ist. Häufig ist dies das Land, in dem die Person erstmals europäischen Boden betreten oder für das sie ein Visum besessen hat.

Im ersten Halbjahr sind laut Innenministerium 121 afghanische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen zwangsweise außer Landes gebracht worden, darunter befanden sich auch 60 Dublin-Überstellungen. Asylrechtsexperte Lukas Gahleitner-Gertz von der asylkoordination berichtete mit Bezug auf eine Anfragebeantwortung, dass im Zeitraum Jänner bis November 2020 Österreich 44 Afghanen bzw. Afghaninnen in EU-Mitgliedsstaaten überstellt hatte. Allerdings wurden gleichzeitig 223 Personen nach Österreich überstellt.

VfGH: Abschiebungen derzeit nicht möglich

Am Mittwoch bezog sich unterdessen auch ein Urteil des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) auf Abschiebungen nach Afghanistan: Ein afghanischer Staatsbürger hatte aufschiebende Wirkung betreffend seiner Anhaltung in Schubhaft beantragt. Die Verfassungsrichter gaben dem statt und bezogen sich in ihrem Spruch auch auf die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan. Vor diesem Hintergrund sei eine zeitnahe Abschiebung in das Land nicht möglich, heißt es.

Wörtlich heißt es in dem Spruch: „Vor dem Hintergrund der aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan ist für den VfGH nicht zu erkennen, dass eine zeitnahe – die gesetzlichen Höchstgrenzen der Anhaltung in Schubhaft berücksichtigende – Abschiebung des Antragstellers in seinen Herkunftsstaat möglich ist. Die Verhängung und Aufrechterhaltung der Schubhaft (und der damit einhergehende Freiheitsentzug) erweisen sich jedoch nur dann als verhältnismäßig, wenn das zu sichernde Verfahren letztlich zu einer Abschiebung führen kann.“

Grüne fordern offene Fluchtwege

Der grüne Koalitionspartner fordert unterdessen konkrete Unterstützung der Bevölkerung. Zentrales Ziel müsse sein, den Schutz und die Sicherheit dieser zu gewährleisten. „Diese Menschen den Taliban auszuliefern, ist ein absolutes No-Go“, teilte die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, in einer Aussendung am Mittwoch mit.

„Hilfe vor Ort bedeutet momentan vor allem offene Fluchtwege, eine adäquate Versorgung der Geflüchteten in den Nachbarstaaten und die sofortige Evakuierung all jener, die um ihr Leben fürchten müssen,“ so Ernst-Dziedzic, die ein EU-Programm zur humanitären Aufnahme von Schutzsuchenden fordert. Bereits laufende Familienzusammenführungen in Österreich müssten jetzt zudem rasch abgeschlossen werden, so Ernst-Dziedzic.

Rendi-Wagner für Art Türkei-Deal

Zur Frage der Unterstützung von Schutzsuchenden äußerte sich am Mittwoch auch die Opposition. Österreich und die EU müssten nun eine führende Rolle einnehmen, um die Menschen auf der Flucht bestmöglich zu unterstützen und zu einer Stabilisierung in Afghanistan beizutragen, so SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. Notwendig sei ein EU-Sonderbeauftragter für Afghanistan, Hilfsgelder müssten an Bedingungen geknüpft sein.

Vertriebene Afghaninnen und Afghanen in einem Camp in Kabul
AP/Rahmat Gul
Die EU debattierte bereits am Mittwoch, wie sie mit Schutzsuchenden aus Afghanistan umgeht

Um Flüchtlinge in der Region unterzubringen, solle die EU Kooperationen schließen, meinte Rendi-Wagner. Es gehe um „eine Art Türkei-Deal“ mit den Nachbarstaaten Afghanistans für sichere Schutzzonen, um unkontrollierte, gefährliche Fluchtbewegungen nach Europa zu verhindern. Forderungen nach speziellen Aufnahmeprogrammen für besonders Gefährdete wollte sich Rendi-Wagner auf Nachfrage nicht recht anschließen. Staatsbürgern und Ortskräften müsse rasch geholfen werden.

FPÖ fordert „Stopp-Zeichen“

„Auf dem falschen Dampfer unterwegs“ sah FPÖ-Sicherheitssprecher Hannes Amesbauer Rendi-Wagner, aber auch die ÖVP. Diese hätten nämlich keine „Konzepte zum Schutz unserer Bevölkerung vor einem möglichen Ansturm wie 2015/2016“. Wichtig sei für Österreich, „die richtigen Signale auszusenden, also ein deutlich sichtbares Stopp-Zeichen aufzustellen“, meinte Amesbauer in einer Aussendung. Das bedeute, keine Asylanträge mehr anzunehmen, die Installierung eines echten Grenzschutzes und auch eine klare Absage an Resettlement-Programme.

Christoph Wiederkehr, Wiener Vizebürgermeister und stellvertretender Parteivorsitzender von NEOS, sieht vor allem die EU gefordert. „Einmal mehr zeigt sich, wie dringend eine starke, gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik und wie notwendig eine europäische Asylpolitik ist.“ Die EU müsse in diesen Bereichen „endlich liefern“. Die Menschen seien aufgrund der Lage akut bedroht, Österreich dürfe sie nicht abweisen, so Wiederkehr und weiter: „Wien wird sie nicht abweisen – weil wir eine vernünftige, aber menschliche Politik machen. Keine türkise.“

Caritas-Präsident Michael Landau appellierte indes am Mittwoch an die Bundesregierung, rasch ein humanitäres Aufnahmeprogramm für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aus Afghanistan zu starten. Die Diakonie sprach sich für humanitäre Korridore für Frauen aus – mehr dazu in religion.ORF.at.

Treffen ursprünglich wegen Belarus angesetzt

Internationale Kritik an Nehammers Haltung kam von Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn: „Das ist schrecklich. Es ist zum Verzweifeln. Solche populistischen Sätze schüren nur Angst“, sagte Asselborn dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Das sei keine gemeinsame europäische Politik, sondern „nur innenpolitisch motiviert“. „Wir können die Menschen aus Afghanistan doch nicht auf den Mond schießen.“ Griechenland schlug unterdessen vor, afghanische Flüchtlinge gleich in die Türkei zu bringen.

Ursprünglich wurde das Sondertreffen der Innenminister wegen der Migrationskrise zwischen dem EU-Staat Litauen und Belarus einberufen. Litauen hat seit Wochen mit einem verstärkten Andrang von Menschen vor allem aus dem Nahen Osten über die Grenze zu Belarus zu kämpfen. Belarus versuche mit „irregulärer Migration“ die Europäische Union zu erpressen, damit die Sanktionen gegen das Land zurückgenommen werden, so Nehammer. Es sei „völlig inakzeptabel“, dass Menschen „dazu eingesetzt werden, um erpresserische Politik zu betreiben“.