Taliban Kämpfer und Menschen in Jalalabad, Afghanistan
APA/AFP
Berichte

Tote bei Anti-Taliban-Protest in Jalalabad

Während die Evakuierungsflüge aus der afghanischen Hauptstadt fortgesetzt werden, sind bei gegen die radikalislamischen Taliban gerichteten Protesten in der afghanischen Stadt Jalalabad mindestens drei Menschen getötet und mehr als ein Dutzend verletzt worden. Das berichteten zwei Augenzeugen und ein früherer Polizeivertreter der Nachrichtenagentur Reuters. Laut der Agentur AP mit Verweis auf einen Beamten wurde ein Mensch getötet, sechs weitere verletzt.

Die Taliban hätten das Feuer eröffnet, als Einwohner der Stadt auf einem Platz versuchten, die Landesflagge zu hissen, so Reuters und AP unisono. Die Machtübernahme der Taliban schürt bei vielen Afghanen und Afghaninnen die Furcht, dass die Islamisten eine ähnliche Schreckensherrschaft errichten könnten wie zwischen 1996 und 2001. Damals folgten die Taliban einer extrem rigiden Auslegung der Scharia.

Frauen durften keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, Mädchenschulen wurden geschlossen. Die Strafen bei Gesetzesverstößen waren oft grausam. Dieben wurde die Hand abgehackt. Frauen, die des Ehebruchs bezichtigt wurden, wurden zu Tode gesteinigt. Auch diesmal wollen die Taliban in Afghanistan wieder mit ihrer Version der Scharia regieren.

Eine geköpfte Buddha Statue in Bamijan
Reuters/Str New
Die 2001 zerstörten Buddha-Statuen in Bamiyan

Statue in Bamiyan geköpft

Unterdessen köpften die Taliban laut Augenzeugen die Statue eines früheren Anführers der Minderheit der Hasara in der afghanischen Stadt Bamiyan. Bei der Zerstörung sei Sprengstoff eingesetzt worden, sagte ein Einwohner, der namentlich nicht genannt werden wollte, am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP. Die Zerstörung galt einer Statue von Abu Ali Masari, der 1995 als Gefangener der Taliban getötet worden war.

„Wir wissen nicht, wer die Statue gesprengt hat, aber hier sind unterschiedliche Gruppen von Taliban, darunter solche, die für ihre Brutalität bekannt sind“, sagte der Augenzeuge. Ein anderer Einwohner sagte, eine Gruppe von Taliban-Kämpfern habe die Statue mit einem Granatwerfer beschossen. „Die Statue ist zerstört, und die Menschen sind traurig. Sie haben aber auch Angst.“ Die Taliban hatten 2001 weltweit für Empörung gesorgt, als sie die jahrhundertealten Kolossalstatuen des Buddha im Bamiyan-Tal sprengen ließen.

In Kandahar soll es laut der außenpolitischen Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, zu öffentlichen Hinrichtungen vor Tausenden Zusehern im Sportstadion gekommen sein. Eine Quelle dazu nannte Ernst-Dziedzic allerdings nicht. „Darüber hinaus gibt es Berichte über Hinrichtungen einzelner Personen, die mit dem Ausland zusammengearbeitet hatten, Videos aus Kabul zeigen brutale Verhaftungen durch Taliban-Kämpfer“, hieß es in der Aussendung weiter. Besonders gefährdet seien Frauen und Menschenrechtsaktivisten.

Lage in Afghanistan chaotisch

Nach der Machtübernahme der Taliban bleibt die Lage in Afghanistan chaotisch. Bei Protesten gegen die radikalen Islamisten wurden mehrere Menschen getötet und Dutzende verletzt.

EU und USA wegen Frauen „zutiefst besorgt“

Die mehrheitlich schiitischen Hasara gelten den sunnitischen Extremisten als ketzerische Sekte. Immer wieder sind sie Ziel von Angriffen. Masari war 1995 nach damaligen Angaben der Taliban während einer Auseinandersetzung an Bord eines Hubschraubers getötet worden, der ihn und andere Gefangene der Taliban nach Kandahar bringen sollte.

Die Europäische Union und die USA haben sich „zutiefst besorgt“ über die Situation der Frauen in Afghanistan geäußert. Die Taliban müssten „jede Form der Diskriminierung und des Missbrauchs“ vermeiden und die Rechte der Frauen schützen, hieß es in einer am Mittwoch veröffentlichten gemeinsamen Erklärung, die von 18 weiteren Ländern unterzeichnet wurde.

Taliban: Rechte von Frauen „im Rahmen der Scharia“

„Wir sind zutiefst besorgt um die Frauen und Mädchen in Afghanistan, ihre Rechte auf Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit“, hieß es in der Erklärung. Die Machthaber und die Behörden im ganzen Land müssten „ihren Schutz garantieren“. Zu den Mitunterzeichnern des Appells gehörten unter anderem Australien, Brasilien, Kanada, Neuseeland, Senegal und die Schweiz.

Satellitenaufnahme des Kabuler Flughafens
AP/Planet Labs Inc./Planet Labs Inc.
Der Flughafen von Kabul ist das Nadelöhr bei der Ausreise aus Afghanistan: Alle Landgrenzen werden von den Taliban kontrolliert

Einem Taliban-Sprecher zufolge wolle man sich zu den Rechten von Frauen „im Rahmen der Scharia“ bekennen, so der Sprecher bei einer Pressekonferenz der Taliban am Dienstag. Da die afghanischen Frauen Musliminnen seien, würden sie auch glücklich sein, innerhalb der Scharia zu leben, wie es der Taliban-Sprecher formulierte.

Ghani in Vereinigten Arabischen Emiraten

Der vor den Taliban geflohene afghanische Präsident Ashraf Ghani hält sich samt seiner Familie in den Vereinigten Arabischen Emiraten auf. Das bestätigte das Außenministerium des Golfstaates. Er werde „aus humanitären Gründen im Land willkommen geheißen“. Nach Angaben der russischen Botschaft in Kabul vom Montag war Ghani mit vier Wagen und einem Hubschrauber voller Geld aus Afghanistan geflohen.

Die Außenminister der NATO-Staaten kommen am Freitag zu einer außerordentlichen Videokonferenz zusammen, um über die Lage in Afghanistan zu beraten. Das teilte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch auf Twitter mit. Dadurch sollten die „enge Abstimmung“ fortgesetzt und das gemeinsames Vorgehen erörtert werden, hieß es.

Hunderte Menschen in einem Transportflugzeug der U.S. Air Force in Kabul
Reuters/DEFENSE ONE
Hunderte Menschen in einem Transportflugzeug der US-Luftstreitkräfte auf dem Flughafen in Kabul

Taliban-Warnschüsse vor Flughafen

Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Taliban-Kämpfer feuerten nach eigenen Angaben der Islamisten Warnschüsse in die Luft, um eine Menschenmenge auf dem Flughafen von Kabul auseinanderzutreiben. Wir haben nicht die Absicht, jemanden zu verletzen, sagte ein Taliban-Vertreter. Das große Chaos vor dem Flughafen dauere an. Verantwortlich dafür sei der „chaotische Evakuierungsplan“ der westlichen Streitkräfte.

Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Nach Angaben eines NATO-Offiziers wurden am Mittwoch mindestens 17 Menschen im Gedränge auf dem Flughafen in Kabul verletzt.

Menschenmenge am Flughafen von Kabul
AP/Shekib Rahmani
Am Montag kam es zu einem Andrang von Menschen auf dem Flughafen in Kabul

Hunderte Menschen harrten weiterhin rund um den Flughafen aus, berichteten Augenzeugen der dpa. Kinder, Frauen und Männer hielten sich in den Straßen um das Flughafengelände auf. Viele hätten dort auch übernachtet. Die Taliban errichteten Checkpoints auf allen Zufahrtswegen und durchsuchen die Menschen, die zum Flughafen wollen – unklar ist, ob sie aktuell überhaupt afghanische Staatsbürger passieren lassen.

Zweifel an Umsetzbarkeit der Evakuierungspläne

In den USA wurden unterdessen jedoch die Angaben von Regierungsvertretern angezweifelt, es könnten bis zu 22.000 Afghaninnen und Afghanen aus dem Land gebracht werden. Um das zu erreichen, müssten „zu viele Dinge hundertprozentig klappen“, sagte ein US-Vertreter laut Nachrichtenagentur Reuters.

Nach Angaben des britischen Botschafters in Kabul, Laurie Bristow, will Großbritannien die Evakuierung von Staatsbürgern aus Afghanistan nochmals beschleunigen. Ihm zufolge wurden allein am Dienstag bereits 700 Menschen durch britische Behörden außer Landes gebracht.

Kleinere Länder auf Solidarität angewiesen

Gerade kleinere EU- und NATO-Länder ohne eigene Flugzeuge sind bei der Evakuierung auf die Solidarität der großen Staaten angewiesen. Im Rahmen einer Luftbrücke und in Abstimmung mit der deutschen Bundesregierung sollen in den nächsten Tagen weitere Sonderflüge aus Taschkent, Doha und anderen Anrainerstaaten zur Rettung der Menschen aus Afghanistan durchgeführt werden, teilte die Lufthansa mit. Die deutsche Regierung beschloss am Mittwoch einen bis September dauernden Einsatz von bis zu 600 Bundeswehrsoldaten für die Evakuierungsaktion in Kabul.

Das österreichische Außenministerium steht im Kontakt mit 45 Menschen, die sich noch in Afghanistan befinden. Es handelt sich um 25 österreichische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, dazu 20 Personen mit österreichischem Aufenthaltstitel. Der Großteil dieser Personen halte sich im Großraum Kabul auf. Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hatte die Entsendung eines Krisenteams nach Afghanistan angekündigt. Es werde daran gearbeitet, die Leute aus dem Land zu bringen.

Rückholhilfe für 45 Personen

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hat am Donnerstag vor einem Treffen der EU-Außenminister die Entsendung eines Krisenteams nach Afghanistan angekündigt. Dieses soll die Rückholung von 45 Menschen nach Österreich vorantreiben. Die Lage im Land bezeichnete Schallenberg als „Fiasko, das uns alle betrifft“.

EU: „Werden mit Taliban reden müssen“

Die EU wird nach Einschätzung ihres Außenbeauftragten Josep Borrell einen Dialog mit den neuen Machthabern in Afghanistan aufnehmen müssen. „Die Taliban haben den Krieg gewonnen, also werden wir mit ihnen reden müssen“, sagte er am Dienstagabend nach einer Videokonferenz der EU-Außenminister.

„Es geht nicht darum, sie offiziell anzuerkennen. Es geht darum, sich mit ihnen zu befassen.“ In einem ersten Schritt sei es wichtig, Bedingungen auszuhandeln, damit europäische Bürgerinnen und Bürger sowie afghanische Ortskräfte, die für die EU gearbeitet haben, das Land sicher verlassen können.

Führungsrat könnte Regierung übernehmen

Einem ranghohen Taliban-Vertreter zufolge könnte Afghanistan ähnlich wie bei der vorherigen Herrschaft der militanten Islamisten künftig von einem Führungsrat regiert werden. Das letzte Wort werde wahrscheinlich aber weiterhin Taliban-Chef Hibatullah Akhundzada als geistliches und politisches Oberhaupt haben, sagte Wahidullah Hashimi, der in die Entscheidungsprozesse der radikalislamischen Bewegung eingebunden ist. Aber es werde keine Demokratie sein.

Akhundzada werde womöglich die Position des Ratschefs, die der eines Staatspräsidenten ähneln dürfte, einem seiner drei Stellvertreter überlassen, hieß es gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Viele Fragen bezüglich der Art und Weise, wie die Taliban Afghanistan regieren werden, seien noch nicht endgültig geklärt, sagte Hashimi.

Die von Hashimi skizzierte Machtstruktur ähnelt der Herrschaft der Taliban zwischen 1996 und Ende 2001, bevor sie nach den Anschlägen vom 11. September durch eine von den USA geführte Allianz gestürzt wurden. Damals hielt sich Oberhaupt Mullah Mohammad Omar im Hintergrund und überließ die alltäglichen Regierungsgeschäfte einem Rat.

Die Taliban trafen sich unterdessen nach Angaben aus ihren Reihen mit Ex-Präsident Hamid Karzai zu Gesprächen. Auch das ranghohe Mitglied der bisherigen Regierung, Abdullah Abdullah, sei bei dem Treffen dabei gewesen, sagte ein Taliban-Vertreter, der namentlich nicht genannt werden wollte. Details nannte er nicht.