Per Skype aus Kabul

Eine Schülerin und die Taliban

Junge Frauen, die gerade noch in Freiheit lebten, die auf die Universität gingen und von einer großen Zukunft träumten: Nach der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan scheint all das in Frage gestellt. ORF.at hat mit der 19-jährigen Sadaf gesprochen, die gemeinsam mit sechs Schwestern bis zuletzt zur Schule ging – und Journalistin werden will.

Sadaf lebt in Kabul. Ihr Vater ist Kinderarzt, ihre Mutter bei den Töchtern zu Hause. Es sind insgesamt neun – und alle neun Mädchen. Im Gespräch mit ORF.at sagte Sadaf, dass sie, von den zwei Kleinsten abgesehen, alle in die Schule gingen – bis zuletzt. Für die Schwestern sei die Ausbildung nun jäh beendet, befürchtet sie. Was auch immer die Taliban momentan versprechen: „Die Menschen vertrauen ihnen nicht – aus Erfahrung.“

Sadaf selbst wäre nächstes Schuljahr in die Maturaklasse gekommen und wollte danach Journalismus studieren, um, wie sie sagt, eine gute Journalistin zu werden, die ihrem Land dient. Für Univorbereitungskurse wird sie sich nun nicht anmelden. Sie glaubt nicht mehr daran, dass es für sie möglich sein wird zu studieren.

Sadaf Ahmadzai mit Rugby-Pokal
Privat
Fußball und Kricket sind Sadafs Leidenschaften

„Wenn die Taliban es erlauben …“

Sadaf ist eine jener jungen, urbanen Frauen, die nach dem Sturz der Taliban 2001 ein Leben in Freiheit führen konnten. Sie und ihre Familie gehören der gut ausgebildeten oberen Mittelschicht an – eine kleine Gruppe, die nur wenig die Bevölkerung Afghanistans repräsentiert. Doch genau Menschen wie sie können der Motor für gesellschaftliche Veränderung sein und zeigen, wie wichtig Bildung – auch und vor allem für junge Frauen – ist.

Sadaf liebte es, in die Schule zu gehen – und Sport zu machen. Vor allem Cricket und Fußball hatten es ihr angetan. Sie betonte, dass sie gerne so weiter gelebt hätte wie bisher. Ganz hat sie die Hoffnung offenbar noch nicht aufgegeben. Wenn die Taliban es erlauben, sagte Sadaf sinngemäß, möchte ihre Familie unbedingt, dass sie studiert und danach arbeiten geht.

Teenagerin – wie überall auf der Welt

An ORF.at sendet Sadaf Fotos von ihrem Leben, wie es bisher war. Man sieht Freundinnen, die ausgelassen gemeinsam im Freien unterwegs sind. Man sieht ein Team von Fußballerinnen, die für die Kamera posieren. Sadaf zeigt stolz einen Pokal. Und die obligatorischen Instagram-Filter-Spielereien dürfen auch bei 19-jährigen Teenagerinnen nicht fehlen (siehe Video ganz oben).

Der Kontakt mit Sadaf kam über ihren Cousin zustande, einen jungen Mann, der seit 2015 in Österreich lebt und fast perfekt Deutsch spricht. Die Situation in seiner Heimat Afghanistan belastet ihn. Mittlerweile erträgt er die sozialen Netzwerke kaum noch: Die Bilder der letzten Tage „lassen ihn nicht kalt“, wie er sagte. Dabei vermisse er sein Land so sehr: Das Streetfood, die Gebirge, die Freundlichkeit – und natürlich die Familie. Mit Sadaf skypt er immer wieder. Im Interview mit ORF.at spricht sie gefasst und ruhig. Doch von privaten Gesprächen kennt ihr Cousin die Verzweiflung in Sadafs Stimme.

„Traurig, hoffnungslos und wütend“

Eine andere Perspektive als die urbane von Sadaf vermittelt Pashtana Durrani. Sie ist Direktorin von Learn Afghanistan, einer Initiative, die vor allem im Bereich Mädchenbildung aktiv ist, im weiten Land abseits von Kabul Schulen gründet, Schulungen organisiert und auf nationaler Ebene für die Belange junger Frauen eintritt. Durrani kann momentan nicht mehr tun, als international in Interviews mit Medien wie CNN auf die prekäre Lage „ihrer Mädchen“ aufmerksam zu machen. Sie fühlt sich angesichts der Ereignisse „traurig, hoffnungslos und wütend auf alle, die uns diesem Chaos überlassen haben“ – namentlich die afghanische Regierung und die internationale Gemeinschaft.

Regelmäßig postet Durrani Storys auf Instagram. Ob die Mädchen, die eigentlich in die Schule gehen sollten, noch leben, weiß sie nicht, von den meisten hat sie in den letzten Tagen einfach nichts mehr gehört. Alles, sagte sie in einem Interview mit dem britischen TV-Sender Channel 4, was sie, ihr Vater und die Mädchen und Frauen von Afghanistan in den letzten 20 Jahren erreicht hätten, werde nun zerstört. Sie und die Mädchen würden ihre Träume, ihre Ambitionen, ihre Identität verlieren – einfach alles.

Kein Vertrauen in Versprechungen

Wie wichtig die Arbeit ihrer Organisation abseits von Kabul ist, erklärte Durrani gegenüber CNN anhand eines Beispiels: Gerade heuer sei eine Aktion angelaufen, bei der das Personal von Learn in die Schulen gegangen sei, um Mädchen über Menstruationshygiene aufzuklären. Von Bedeutung sei das vor allem, weil es am Land nicht einmal in Schulgebäuden Fließwasser gibt. Mädchen würden nach den Schulungen auf sie zukommen und sich bedanken, weil noch niemals jemand mit ihnen über das Tabuthema Menstruation gesprochen habe.

Den Versprechungen der Taliban, die Rechte von Frauen zu achten, vertraut Durrani nicht. In den vergangenen Jahren hätten sie das in jenen Gebieten, in denen sie das Sagen hatten, niemals getan. Einzelne Frauen seien ermordet, andere daran gehindert worden, zur Arbeit zu gehen. Durrani erzählte von einer Privatbank, die acht Frauen beschäftigt hatte. Die Taliban hätten das verboten und die männlichen Vormunde der Frauen aufgefordert, statt diesen arbeiten zu gehen.

Was ist die Scharia?

„Scharia“ (wörtlich: Weg zur Wasserquelle, übertragen: religiöses Gesetz) bezeichnet das islamische Rechtssystem, das die Beziehung zu Gott und der Menschen untereinander regelt. Sie ist kein Kodex für gesetzliche Normen, sondern ein Rahmen für die Rechtsschöpfung durch Rechtsgelehrte. Sie ist ein komplexes Rechtssystem, das sich laufend weiterentwickelt.

Keine Bildung, Rechte und Sicherheit

Das erklärte Ziel der Taliban ist es – so weiß man aus Zeiten des Islamischen Emirats Afghanistan (1996–2001) – nach der Scharia, der strengen Auslegung des islamischen Rechts, zu leben. Der Terrormiliz zufolge soll ein Umfeld für Frauen geschaffen werden, in dem sie ohne Selbstbestimmung völlig zurückgezogen leben müssen.

Während der Herrschaft des Islamischen Emirats durften Frauen prinzipiell nicht das Haus verlassen, und wenn, dann nur in Burka und mit einem männlichen Familienmitglied. Bevor die Taliban das letzte Mal vor 20 Jahren aus Kabul verdrängt wurden, war es Frauen außerdem verboten, zu arbeiten und ab dem Alter von acht Jahren unterrichtet zu werden. Unter Unterricht verstehen die Taliban vorwiegend das Studieren des Korans.

Das hatte zur Folge, dass sich Schulen für Frauen im Untergrund bildeten. Dort riskierten Schülerinnen sowie Lehrende die Todesstrafe. Durrani, die Direktorin von Learn Afghanistan, zeigte sich in sämtlichen Interviews unerschrocken. Wenn die Schulen für Mädchen offiziell wieder verboten werden sollten, dann werde man eben wieder im Untergrund weitermachen und – das sagt sie nicht dazu – täglich das Leben riskieren.