Menschen aus Afghanistan entlang eines Grenzzauns auf dem Weg nach Pakistan
Reuters/Abdul Khaliq
Afghanistan

Appell für sichere Fluchtrouten nach Europa

Die Debatte über den Umgang mit afghanischen Flüchtlingen nach der Machtübernahme der Taliban ist in der EU bereits voll angelaufen. Am Mittwoch trafen sich die Innenminister der Mitgliedsstaaten zu einem Sonderrat, in dem es eigentlich um den Streit zwischen Belarus und Litauen gehen sollte – überschattet wurde das Treffen allerdings vom Thema Afghanistan. Bereits jetzt zeigten sich zwischen den Staaten erste Dissonanzen. Eindeutige Appelle gab es hingegen von der EU-Kommission: Sie forderte sichere Fluchtrouten.

EU-Innenkommissarin Ylva Johansson forderte die Mitgliedsstaaten dazu auf, gefährdete Menschen in Afghanistan schnell nach Europa zu holen. Afghanen und Afghaninnen, die nach der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban in Kabul „unmittelbar bedroht sind, sollten in EU-Mitgliedsstaaten umgesiedelt werden“, sagte Johansson am Mittwoch nach einer Videokonferenz mit den EU-Innenministern.

„Es gibt Menschen, die sich zum Beispiel für die Grundrechte von Journalisten und anderen in Afghanistan eingesetzt haben, die jetzt bedroht sind und wirklich sicher in die Europäische Union umgesiedelt werden müssen", sagte Johansson weiter. „Wir sollten nicht warten, bis die Menschen an unserer Außengrenze stehen. Wir müssen ihnen schon vorher helfen.“ Abschiebungen nach Afghanistan müssten zudem ausgesetzt werden. „Es ist nicht sicher“, sagte die Schwedin.

Nächster Ruf nach Verteilung von Geflüchteten

Der Präsident des EU-Parlaments, David Sassoli, forderte zudem, dass in die EU gelangte Menschen aus Afghanistan auf alle Mitgliedsstaaten verteilt werden. „Wir haben eine Verantwortung. Ich glaube, die EU-Kommission kann ihre Verteilung unter den Mitgliedsstaaten autorisieren, um eine gleiche Belastung zu sichern. Das kann rasch gemacht werden“, sagte Sassoli. Freilich hatte in den vergangenen Jahren gerade die Umverteilung für heftigen Streit in der EU-Flüchtlingspolitik gesorgt.

Streit über Afghanistan-Flüchtlinge

In der EU gibt es einen Streit über den Umgang mit afghanischen Flüchtlingen. Während die EU-Kommission bedrohte Menschen retten will, spricht sich Österreichs Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) für eine Abschiebung in die Nachbarstaaten Afghanistans aus.

Bedeckt hielten sich nach dem Treffen die Innenministerinnen und Innenminister selbst – das Thema stand offiziell nicht auf der Tagesordnung. Man werde in den kommenden Tagen eine Diskussion über Afghanistan führen. Dann sollten auch die verschiedenen Wünsche und Bedürfnisse der einzelnen Staaten diskutiert werden, so der slowenische Innenminister Ales Hojs. Slowenien hat derzeit die Ratspräsidentschaft inne.

Luxemburg: Nehammer „innenpolitisch motiviert“

Angesichts der jahrelangen Uneinigkeit in der EU-Flucht- und Migrationspolitik ist zu erwarten, dass die EU-Staaten gespalten sein werden. Das deutete sich schon am Mittwoch an. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) hatte vor dem Treffen betont, einer möglichen Flüchtlingsbewegung aus Afghanistan durch „Hilfe vor Ort“ und „Abschiebezentren“ in der Nachbarregion Afghanistans zu begegnen. „Ziel muss es sein, den Großteil der Menschen in der Region zu halten“, sagte er.

Für diese Haltung erntete er Kritik seines Luxemburger Kollegen Jean Asselborn. Mit Blick auf die Nehammers Äußerungen sagte der Luxemburger gegenüber RND: „Das ist schrecklich. Es ist zum Verzweifeln. Solche populistischen Sätze schüren nur Angst.“ Das sei keine gemeinsame europäische Politik, sondern „nur innenpolitisch motiviert“. „Wir können die Menschen aus Afghanistan doch nicht auf den Mond schießen.“

Nehammer hatte darüber hinaus betont, die EU dürfe sich aber nicht in eine Situation wie 2015 begeben. Er forderte eine Stärkung des Außengrenzschutzes zur Abwehr möglicher Terroristen. Weiters betonte er, an Abschiebungen von afghanischen Bürgerinnen und Bürgern aus Österreich in sichere Drittstaaten festhalten zu wollen. Er verwies auf die Signalwirkung.

Opposition mit gemischter Haltung

Vom grünen Regierungspartner forderte unterdessen die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, „offene Fluchtwege, eine adäquate Versorgung der Geflüchteten in den Nachbarstaaten und die sofortige Evakuierung all jener, die um ihr Leben fürchten müssen“. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner hielt eine Art Türkei-Deal in der Region für eine Option. Die FPÖ forderte hingegen ein „Stopp-Zeichen“ und ein Ende der Annahme von Asylanträgen. Christoph Wiederkehr, Wiener Vizebürgermeister und stellvertretender Parteivorsitzender von NEOS, appellierte für eine Einigung in der EU und „vernünftige, aber menschliche Politik“.

Vertriebene Afghaninnen und Afghanen in einem Camp in Kabul
AP/Rahmat Gul
In der EU zeichnete sich am Mittwoch eine Debatte über Schutzsuchende ab

Griechenland will Türkei involvieren

Einen Vorschlag für den Umgang mit den Flüchtlingen äußerte unterdessen Griechenlands Migrationsminister Notis Mitarachi. Er schlug vor, abgelehnte Asylbewerber in die Türkei zu bringen: „Wir halten die Türkei für ein sicheres Land für afghanische Bürger.“ Die EU hatte im Zuge der Flüchtlingskrise einen Deal über die Aufnahme syrischer Flüchtlinge mit der Türkei abgeschlossen.

Bereits gestern hatte auch die deutsche Regierung die Annahme geäußert, dass die Rückkehr der Taliban an die Macht eine Fluchtbewegung aus dem Land auslösen wird. Mit Blick auf Forderungen, Deutschland solle Flüchtlingskontingente aufnehmen, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): „Bevor man über Kontingente spricht, muss man erst mal über sichere Möglichkeiten für Flüchtlinge in der Nachbarschaft von Afghanistan reden. Dann kann man in einem zweiten Schritt darüber nachdenken, ob besonders betroffene Personen kontrolliert und auch unterstützt nach Europa und in die europäischen Länder kommen.“

UNHCR bleibt im Land

Die UNO forderte unterdessen einen Abschiebestopp nach Afghanistan. Die Organisation selbst kündigte an, vorläufig rund 100 internationale Mitarbeiter aus dem Land nach Kasachstan verlegen zu wollen. In Afghanistan weiterarbeiten will hingegen das Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Man wolle im Land bleiben, weil die Menschen dort jetzt mehr denn je Hilfe brauchen. Nach Angaben des UNHCR arbeiten derzeit rund 200 Mitarbeiter in Afghanistan

EU-Innenkommissarin Johanssons Angaben zufolge sind 80 Prozent der zur Flucht gezwungenen Menschen Frauen und Kinder. Seit Anfang des Jahres seien rund 550.000 Afghaninnen und Afghanen innerhalb des Landes vertrieben worden, zusätzlich zu den 2,9 Millionen, die bereits zuvor innerhalb des Landes geflohen waren.