Flagge der Taliban
AP/Gulabuddin Amiri
„Keine Demokratie“

Taliban bauen afghanische Regierung auf

Wie eine Regierung in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban in Zukunft aussehen wird, ist noch unbekannt. Ähnlich wie bei der vorherigen Herrschaft der militanten Islamisten könnte ein Führungsrat das Land regieren. Das sagte ein ranghoher Taliban-Vertreter am Mittwoch. „Eine Demokratie wird es aber keine sein.“

Das letzte Wort werde wahrscheinlich aber weiterhin Taliban-Chef Hibatullah Akhundzada als geistliches und politisches Oberhaupt haben, sagte Wahidullah Hashimi, der in die Entscheidungsprozesse der radikalislamischen Bewegung eingebunden ist. Akhundzada werde womöglich die Position des Ratschefs, die der eines Staatspräsidenten ähneln dürfte, einem seiner drei Stellvertreter überlassen, hieß es gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.

Viele Fragen bezüglich der Art und Weise, wie die Taliban Afghanistan regieren werden, seien noch nicht endgültig geklärt, sagte Hashimi. Die von ihm skizzierte Machtstruktur ähnelt der Herrschaft der Taliban zwischen 1996 und Ende 2001, bevor sie nach den Anschlägen vom 11. September durch eine von den USA geführte Allianz gestürzt wurden. Damals hielt sich Oberhaupt Mullah Mohammad Omar im Hintergrund und überließ die alltäglichen Regierungsgeschäfte einem Rat.

Chaos in Afghanistan

Während die Evakuierungsflüge aus der afghanischen Hauptstadt Kabul fortgesetzt wurden, gab es bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad Tote und Verletzte.

Gespräche mit Ex-Präsident Karzai

Gespräche gab es unterdessen zwischen den Taliban und Ex-Präsident Hamid Karzai. Auch das ranghohe Mitglied der bisherigen Regierung, Abdullah Abdullah, sei bei dem Treffen dabei gewesen, sagte ein Taliban-Vertreter, der namentlich nicht genannt werden wollte. Auf Taliban-Seite habe der Anführer der Haqqani-Gruppe, Anas Haqqani, teilgenommen. Details zu den Gesprächen nannte der Taliban-Vertreter nicht. Es sei noch zu früh zu sagen, ob die Taliban in ihre neue Regierung auch Mitglieder früherer Regierungen einbeziehen würden, erklärte er. Karzai war von 2001 bis 2014 afghanischer Präsident.

Der frühere afghanische Präsident Hamid Karzai
APA/AFP/Sajjad Hussain
Der frühere afghanische Präsident Karzai

Der vor den Taliban geflohene afghanische Präsident Ashraf Ghani hat inzwischen samt seiner Familie in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) Unterschlupf gefunden. Das bestätigte das Außenministerium des Golfstaates. Er werde „aus humanitären Gründen im Land willkommen geheißen“. Ghani dementierte unterdessen Berichte, er habe bei seiner Flucht große Mengen Bargeld mitgenommen. Das seien Lügen. Er habe Kabul verlassen, um ein Blutvergießen und eine große Katastrophe zu verhindern. Regierungsvertreter hätten ihm dazu geraten.

Taliban wollen Soldaten integrieren

Hashimi kündigte außerdem an, ehemalige Piloten und Soldaten der afghanischen Streitkräfte für einen Neuaufbau der Armee gewinnen zu wollen. Die Taliban bräuchten vor allem Piloten, weil sie selbst keine hätten. Es seien ihnen aber bei der blitzartigen Eroberung des Landes nach dem Abzug der ausländischen Truppen Hubschrauber und Flugzeuge in die Hände gefallen. Es werde einige Veränderungen und Reformen in der Armee geben.

„Wir brauchen sie und werden sie auffordern, sich uns anzuschließen. Die meisten von ihnen haben eine Ausbildung in der Türkei, Deutschland und England absolviert. Wir werden also mit ihnen reden, damit sie auf ihre Positionen zurückkehren“, sagte Hashimi. Zudem würden die Taliban Nachbarländer auffordern, Militärflugzeuge zurückzugeben, mit denen Soldaten geflohen seien.

Islamische Gelehrte befinden über Frauenrechte

In Afghanistan hielt sich unterdessen das Misstrauen gegenüber den neuen Machthabern – trotz der Versprechen der Taliban, auf Racheakte zu verzichten, auch andere politische Kräfte an der Macht zu beteiligen und Frauenrechte innerhalb islamischer Gesetze zu respektieren. Viele befürchten eine Rückkehr der Schreckensherrschaft der Islamisten der 1990er Jahre, während der etwa Frauen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren und die Vorstellungen der Islamisten mit barbarischen Strafen durchgesetzt wurden.

Burka tragende afghanische Frauen
Reuters/Parwiz
Burka tragende afghanische Frauen

Hashimi sagte, die Rechte von Frauen sollen künftig von einem Rat islamischer Gelehrter festgelegt werden. Diese Gelehrten würden letztlich über Arbeit und Bildung für Frauen, ob Mädchen zur Schule gehen dürfen und wie sich Frauen zu kleiden haben, entscheiden. Sie würden auch darüber entscheiden, ob Frauen einen kopftuchähnlichen Hijab, eine den ganzen Körper umhüllende Burka oder nur einen Schleier und eine Abaja – eine Art Ganzkörpergewand, bei der das Gesicht unbedeckt ist – oder etwas anderes tragen sollen, so Hashimi. „Das bleibt ihnen überlassen.“

Ein Mann hält bei einer Demonstration in Jalalabad (Afghanistan) eine afghanische Flagge
APA/AFP/Pajhwok
Die afghanische Flagge als Zeichen des Protests

Am Dienstag hatte Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid gesagt, die Rechte von Frauen würden respektiert, sie dürften arbeiten, studieren und aktiv an der Gesellschaft teilnehmen – „aber im Rahmen des Islams“. Die internationale Gemeinschaft pochte darauf, dass vor allem die Rechte von Frauen und Mädchen gewahrt bleiben. „Afghanische Frauen und Mädchen verdienen es wie alle Afghanen in Sicherheit, Geborgenheit und Würde zu leben“, hieß es in einer gemeinsamen Stellungnahme der EU, der USA, Großbritanniens und anderer Staaten.

Erdogan spricht seine Unterstützung aus

Frankreich stellte Bedingungen für eine internationale Anerkennung einer afghanischen Regierung. Die Taliban müssten etwa internationale Entwicklungshilfe akzeptieren, die Rechte von Frauen respektieren und dem Terrorismus den Rücken kehren, sagte Außenminister Jean-Yves Le Drian am Mittwoch. „Wenn die neue Generation der Taliban internationale Anerkennung will (…), müssen sie zunächst den Afghanen, die das Land aus Angst verlassen wollen, die Möglichkeit dazu geben.“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte Afghanistan seine Unterstützung zu. Wer auch immer die Führung innehabe, man stehe Afghanistan in guten wie in schlechten Zeiten bei, sagte Erdogan laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am Mittwoch. Die Türkei habe bereits zuvor erklärt, man könne die Führung der Taliban empfangen, das gelte auch heute.

WHO fordert Fortsetzung der Hilfe

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) forderte am Mittwoch eine Fortsetzung der Hilfe für Afghanistan. Nachhaltige humanitäre Hilfe einschließlich medizinischer Hilfslieferungen sei für Millionen Afghaninnen und Afghanen eine „Lebensader“ und dürfe nicht unterbrochen werden, erklärte die WHO. Das Gesundheitssystem in Afghanistan sei durch Monate der Gewalt und einen Mangel an Mitteln zum Kampf gegen die Coronavirus-Epidemie angeschlagen.

Laut WHO wurden in den Monaten Jänner bis Juli 26 medizinische Einrichtungen in Afghanistan angegriffen und zwölf Mitarbeiter des Gesundheitssystems getötet. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen teilte am Mittwoch mit, dass sie ihre medizinischen Projekte in fünf afghanischen Provinzen fortsetzt. Nach dem Ende der Kämpfe sei die Zahl der Patienten deutlich angestiegen, erklärte Ärzte ohne Grenzen. Deutschland, Finnland und Schweden wollen vorerst keine Entwicklungshilfe mehr leisten.