Menschen klettern eine mit Stacheldraht versehene Mauer hoch, nachdem Schüsse der Taliban zu hören waren
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Schüsse und Tote

Dramatische Szenen auf Flughafen Kabul

Auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul spielen sich offenbar dramatische Szenen ab, wie nach Deutschland geholte Menschen am Donnerstag berichtet haben. Die Augenzeugen sprachen von Toten und Schüssen. Auch das Vorgehen der US-Soldaten wurde stark kritisiert: „Die lassen nur ihre Leute durch“, hieß es.

Aus Afghanistan in Sicherheit gebrachte Menschen berichteten nach ihrer Landung in Deutschland von schlimmen Erlebnissen und chaotischen Verhältnissen auf dem Kabuler Flughafen. Ein Passagier sagte Donnerstagfrüh im Frankfurter Flughafen, er habe Tote gesehen und Schüsse gehört. „Es ist schrecklich“, sagte Mahmud Sadjadi. „Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit. Nur Chaos“, beschrieb er die Zustände in Kabul.

Der Mann aus dem Westerwald war zuvor mit einem Evakuierungsflug der Lufthansa aus der usbekischen Hauptstadt Taschkent nach Frankfurt geflogen worden. An Bord der Maschine waren nach Airline-Angaben rund 250 Menschen. Die deutsche Bundeswehr bringt seit Dienstag Menschen aus Kabul nach Taschkent. Die Rettungsmission gilt als sehr gefährlich.

Ein Mitglied der Taliban ladet seine Waffe auf dem Areal des Flughafens in Kabul
Reuters/Reuters Tv
Taliban mit gepanzertem Fahrzeug vor dem Flughafen

„Es gab keine Informationen, wo wir uns sammeln müssen“

Sadjadi, der sich drei Wochen in Kabul aufgehalten hatte, bestätigte das, insbesondere auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt sei es gefährlich. „Man muss beispielsweise auch durch eine Barriere der Taliban durchgehen.“ Afghanische Sicherheitskräfte hätten geschossen. Er habe mitbekommen, wie Menschen gestorben seien. Ohne Pass sei kein Durchkommen zum Flughafen möglich gewesen.

Sadjadi dankte der deutschen Regierung für die Rettung, beklagte aber auch fehlende Informationen. „Es gab keine Informationen, wo wir uns sammeln müssen, wann wir uns sammeln müssen.“ Man sei alleingelassen worden, auf seine Mails habe er keine Antwort bekommen. Andere Länder hätten ihre Leute mit Bussen eingesammelt und zum Flughafen gebracht. „Gott sei Dank ist alles gutgegangen.“

Eingänge „völlig verstopft“

Ein anderer Passagier, der seinen Namen nicht nennen wollte, berichtete von organisatorischen Schwierigkeiten bei der Rückkehraktion. „Die Situation ist schwer und nicht leicht unter Kontrolle zu bringen“, sagte er. Die Menschen in Afghanistan brauchten aber Hilfe: „Die Welt muss den afghanischen Leuten helfen.“

Menschen versammeln sich außerhalb des Flughafenareals, nachdem sie Schüsse vernommen hatten
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Tausende befinden sich vor dem Flughafengelände

Einheimische Helfer von deutschen Organisationen berichteten ebenfalls von Schwierigkeiten, zu Evakuierungsflügen auf den Flughafen zu kommen. Einerseits seien die Straßen zu den Flughafeneingängen völlig verstopft und teils unpassierbar. Andererseits ließen US-Soldaten sie dann direkt bei den Eingängen nicht vor, berichteten zwei Ortskräfte am Donnerstag der dpa.

US-Soldaten und flüchtende Menschen in einem Flugzeug auf dem Flughafen in Kabul, Afghanistan
Reuters/U.s. Central Command Public Affa
US-Soldaten und flüchtende Menschen in einem Flugzeug auf dem Flughafen in Kabul

US-Soldaten „lassen nur ihre Leute durch“

„Die amerikanischen Soldaten lassen nur ihre Leute durch“, sagte eine Ortskraft. Es habe zu der Zeit, als die Person zum Flughafen gerufen wurde, von deutscher Seite niemanden am Eingang gegeben. Eine andere Ortskraft berichtete, sie habe von 20.00 bis 2.00 Uhr versucht, in den Flughafen zu gelangen. Ein US-Soldat habe gesagt, jemand müsse herkommen und überprüfen, ob er wirklich eine Ortskraft der Deutschen sei. Immer wieder seien Schüsse in die Luft gefeuert worden. Auch Tränengas sei eingesetzt worden. Zudem blockierten Afghanen, die keine Dokumente hätten, den Zugang, hieß es auch hier weiter.

Menschenmenge am Flughafen von Kabul
AP/Shekib Rahmani
Einige tausend US-Soldaten sind derzeit auf dem Flughafen Kabul im Einsatz

Mehrere Zugänge

Auf dem Flughafengelände gibt es verschiedene Eingänge. Viele Menschen befinden sich am Zugang zum zivilen Teil, der am südlichen Ende des Flughafens liegt. Von dort aus werden kommerzielle Flüge abgewickelt, die allerdings aktuell eingestellt sind. Am nördlichen Ende gibt es einen Zugang zum militärischen Teil.

Satellitenaufnahme des Kabuler Flughafens
AP/Planet Labs Inc./Planet Labs Inc.
Der Flughafen von Kabul ist das Nadelöhr bei der Ausreise – alle Landgrenzen werden von den Taliban kontrolliert

Ein weiterer Eingang liegt rund einen Kilometer östlich vom Eingang zum zivilen Teil. Rund um diese Eingänge – aber auch entlang der Sprengschutzwände, die das Gelände umgeben – harren Tausende Menschen aus oder versuchen irgendwie, auf das Gelände zu gelangen.

Seit der Machtübernahme der Taliban versuchen viele Menschen, das Land zu verlassen. Westliche Länder haben Evakuierungsflüge gestartet, um ihre Staatsbürger außer Landes zu bringen sowie Ortskräfte, an denen Racheaktionen der Taliban befürchtet werden. Allein die deutsche Bundeswehr hat nach Angaben des deutschen Verteidigungsministeriums aus Kabul inzwischen mehr als 900 Menschen ausgeflogen.

250 Menschen nach Paris und Madrid ausgeflogen

Die französische und die spanische Regierung haben rund 250 Menschen aus Afghanistan nach Paris und Madrid ausgeflogen. Auf dem Flughafen Roissy Charles-de-Gaulle bei Paris trafen mit einer Maschine der französischen Luftwaffe am Mittwochabend rund 200 Passagiere ein, darunter 25 Franzosen. Auf dem spanischen Militärstützpunkt Torrejon de Ardoz bei Madrid wurden 53 Passagiere in Empfang genommen, darunter fünf Spanier.

„Das sind wir Ihnen schuldig“, twitterte der französische Präsident Emmanuel Macron zur Begrüßung der Menschen. Einer der Eingetroffenen zeigte sich „sehr erfreut“, dass er und seine Familie ausreisen konnten, „um wenigstens die Grausamkeiten der Taliban zu überleben“. Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian sagte, die Afghanen seien „bedroht“ gewesen und hätten es „verdient, dass Frankreich ihnen Asyl gewährt“.

Biden: US-Soldaten länger auf dem Flughafen

Das Chaos beim Abzug der US-Truppen war nach Ansicht von US-Präsident Joe Biden unvermeidlich – aufgrund des Zusammenbruchs der afghanischen Regierung, des Militärs und der schnellen Machtübernahme der Taliban. In einem TV-Interview am Mittwoch versicherte Biden, dass die US-Soldatinnen und -Soldaten für die Evakuierungen notfalls auch über den geplanten Abzugstermin 31. August hinaus auf dem Flughafen Kabul bleiben.

Chaos in Afghanistan

Unter der Kontrolle der Taliban werden in Afghanistans Hauptstadt Kabul vor dem Flughafen Checkpoints errichtet. Viele Menschen dürfen nicht durch.

Biden war angesichts der Rückkehr der Taliban an die Macht in die Kritik geraten. In einem Interview für den US-Fernsehsender ABC verteidigte er das Vorgehen der Regierung beim Truppenabzug. „Die Vorstellung, dass es irgendwie einen Weg gibt, ohne folgendes Chaos rauszukommen – ich weiß nicht, wie das gehen soll“, sagte er.

Geheimdienstinfo als Argument angeführt

Innerhalb der Geheimdienste habe es „keinen Konsens“ bezüglich der Prognosen für Afghanistan gegeben. Es habe geheißen, eine Machtübernahme sei gegen Ende des Jahres wahrscheinlicher, hielt der US-Präsident Medienberichten entgegen, wonach die Regierung intern Warnungen vor einem möglicherweise sehr schnellen Zusammenbruch bekommen haben soll.

Unterstützung bekam Biden aus dem US-Militär: „Es gab nichts, das ich gesehen habe oder irgendjemand anders, das auf einen Zusammenbruch dieser Armee und dieser Regierung innerhalb von elf Tagen hingewiesen hätte“, sagte Generalstabschef Mark Milley. Es habe mehrere Szenarien gegeben, „aber der zeitliche Rahmen eines schnellen Zusammenbruchs wurde weithin auf Wochen, Monate oder sogar Jahre nach unserem Abzug eingeschätzt“.

Probleme mit Taliban bei Ausreise von Afghanen

Die afghanischen Sicherheitskräfte seien den Taliban in Bezug auf Truppenstärke, Ausbildung und Ausrüstung überlegen gewesen. Letztlich sei es eine Frage des „Willens und der Führung“ gewesen. Bei der Evakuierung gebe es teilweise Probleme mit den Taliban. Zwar würden die Islamisten „kooperieren“ und US-Bürgerinnen und -Bürger sowie Botschaftsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter ausreisen lassen.

Aber bei früheren afghanischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der US-Behörden und Streitkräfte gebe es „ein bisschen mehr Schwierigkeiten“, berichtete Biden. Das zeigen etwa auch die Berichte einer CNN-Reporterin in Kabul.

Die USA wollen auch etwa 50.000 bis 65.000 Helferinnen und Helfer einschließlich ihrer Familien in Sicherheit bringen. Biden legte sich nicht fest, ob der Einsatz des US-Militärs auch dafür verlängert würde. „Die Verpflichtung besteht darin, alle rauszuholen, die wir rausholen können, und alle, die rausgeholt werden sollten“, sagte er. Das Ziel sei es weiter, den Einsatz bis 31. August abzuschließen. Aber: „Wenn dort noch amerikanische Bürger sind, werden wir bleiben, bis wir sie alle rausgeholt haben.“

Tote bei Protesten in Kunar

In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Taliban-Kämpfer hätten Schüsse abgegeben. Es sei unklar, ob die Menschen bei einer Massenpanik oder durch Schüsse getötet wurden, sagte Augenzeuge Mohammad Salim der Nachrichtenagentur Reuters.

Die Kundgebungsteilnehmer hätten die offizielle Flagge Afghanistans geschwenkt. Am 19. August wird in Afghanistan die Unabhängigkeit von Großbritannien gefeiert. Am Vortag starben drei Personen bei Anti-Taliban-Prostesten in der Stadt Jalalabad, mehrere Menschen wurden verletzt.