Talibankämpfer in Kabul (Afghanistan)
AP/Rahmat Gul
Iran, Pakistan

Sieg der Taliban als Zwickmühle

Die Nachbarstaaten Afghanistans sind nach der Machtübernahme der Taliban beunruhigt über anstehende Fluchtbewegungen. Die Dschihadisten haben aber in der Region auch viele Verbündete, darunter selbst staatliche Akteure. Besondere Rollen fallen dabei den islamischen Republiken Iran und Pakistan zu, die beide Atomprogramme betreiben.

Der Iran und Pakistan haben höchst unterschiedliche Beziehungen zu den Taliban. Während der Iran nach seiner feindlichen Haltung gegenüber der sunnitischen Terrorgruppe rund um die Jahrtausendwende nun pragmatisch mit den Taliban umzugehen scheint, ist die Unterstützung Pakistans weiterhin augenscheinlich. Die afghanische Bevölkerung habe durch die Machtübernahme der Taliban nun „die Fesseln der Sklaverei abgeworfen“, kommentierte der pakistanische Premier Imran Khan die Geschehnisse im Nachbarland.

Der Erfolg der Taliban – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart – ist auch zu einem Gutteil pakistanischen Kräften zu verdanken. Schon die erste Taliban-Regierung in Afghanistan wurde von Islamabad aus unterstützt. Während das erste Taliban-Regime (1996–2001) international isoliert war, befand sich Pakistan unter den wenigen Staaten, die es anerkannten.

Querverbindungen zu al-Kaida

In Afghanistan mischte der pakistanische Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) bereits seit dem Einmarsch der Sowjetunion 1979 entscheidend mit. Er soll später auch die Taliban nicht nur finanziell und militärisch versorgt, sondern aufgebaut haben – ein wiederkehrender Vorwurf, den Pakistan dementiert. Al-Kaida-Chef Osama bin Laden hatte wohl gute Kontakte zu ISI, und das schon in jungen Jahren als Mitglied der afghanischen Mudschahedin im Kampf gegen die Sowjets.

Bin Laden hatte bis zu seiner Tötung 2011 auch jahrelang in der Stadt Abbottabad gelebt – einer Hochburg des pakistanischen Militärs. Al-Kaida und die Taliban sind Verbündete: 2016 schwor Al-Kaida-Anführer Aiman al-Sawahri den Taliban die Treue, zum Sieg über Kabul gratulierte die Propagandaagentur des Terrornetzwerks den Taliban nun frenetisch.

Taliban genossen Schutz aus Islamabad

Pakistan war im Anti-Terror-Kampf nach dem 11. September offiziell ein Partner der USA, allerdings ein unzuverlässiger, wie wiederholt moniert wurde. Die westlichen Verbündeten hegten zunehmend den Verdacht, dass Pakistan ein doppeltes Spiel spiele. Eines der größten Hindernisse für einen amerikanischen Erfolg in Afghanistan sei „die unbeugsame Unterstützung der Taliban durch unseren ‚Verbündeten‘ in Islamabad“, schrieb der US-Experte Walter Russell Mead im „Wall Street Journal“.

„Solange die Pakistaner der Dschihadistengruppe Schutz und Unterstützung boten, konnte sie nicht zerstört werden.“ Im Gegenteil – durch Pakistans Hilfe hätten die Taliban nach dem US-Abzug „einen unüberwindlichen Vorteil gegenüber der demokratischen afghanischen Regierung“ gehabt.

„Pakistan ist Gewinner der Situation“

Auch dass nun Erzfeind Indien in Afghanistan kaum noch Einfluss ausüben können wird, ist für Pakistan ein Vorteil. „Pakistan ist neben China sicher einer der Gewinner der aktuellen Situation“, so Markus Gauster vom Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK) der Landesverteidigungsakademie in Wien zu ORF.at.

Auch in Afghanistan hätten Indien und Pakistan ihren Konflikt stellvertretend ausgetragen, Indien habe nun durch den Machtwechsel den Kürzeren gezogen, so der Wissenschaftler, der unter anderem als EU-Wahlbeobachter in dem Land geforscht hat. „Jetzt wird man abwarten müssen, wie sich die Lage entwickelt. Mittlerweile sind die Taliban nicht mehr in dem Ausmaß von Pakistans Unterstützung abhängig, noch dazu befindet sich Pakistan selbst in einer schweren Wirtschafts- und Energiekrise.“

Gegenüber jenen, die vor den Taliban aus Afghanistan fliehen wollen, schottet sich derzeit Pakistan ab. Sowohl Pakistan als auch der Iran und China, das in Afghanistan großen Einfluss ausübt, hätten schon seit einiger Zeit die Machtübernahme in Kabul vorhergesehen, sagt Gauster. „Auf dem Land war ja schon alles talibanisiert.“ Die Grenzen habe man dann zeitgerecht abgedichtet. In Pakistan befinden sich bereits rund 1,4 Millionen Afghaninnen und Afghanen als registrierte Flüchtlinge. Mehr will Islamabad nicht aufnehmen.

Iran reagiert mit Vorsicht

Auch der Iran rüstete sich bereits für größere Fluchtbewegungen aus Afghanistan. An drei Grenzübergängen wurden Pufferzonen errichtet. Dort sollen Geflüchtete vorerst Schutz erhalten, bis sich die Lage im Nachbarland wieder beruhigt hat. Dann sollen die Menschen in ihre Heimat zurückkehren, in den Iran sollen sie nicht kommen. Für den Iran sind Fluchtbewegungen aus Afghanistan ebenfalls nicht neu. Das Land hatte nach der sowjetischen Invasion 1979 über drei Millionen afghanische Geflüchtete einreisen lassen. Es gilt aber als unwahrscheinlich, dass Teheran erneut eine Einreise zulässt.

Der Konfliktforscher meint, in Teheran sei man sich nicht ganz einig, wie man mit den Taliban umgehen soll. Der Iran signalisierte zuletzt vor allem das Bestreben, die Region wieder zu stabilisieren. Selbst hat der Staat, der seit Anfang August vom erzkonservativen Kleriker Ebrahim Raisi regiert wird, mit mehreren Krisen zu kämpfen. Neben der Pandemie machen dem Iran vor allem die internationalen Sanktionen wegen seines Atomprogramms zu schaffen, die die schwere Wirtschaftskrise im Land befeuern.

Annäherung nach Feindschaft

Die Beziehungen zwischen Teheran und den Taliban sind historisch schwierig. Im Jahr 1998 hatten Taliban-Kämpfer das iranische Konsulat im nordafghanischen Mazar-e Sharif überfallen und mehrere Diplomaten sowie einen Journalisten getötet. In der Folge war es beinahe zu einem iranischen Einmarsch in Afghanistan gekommen, der jedoch nach einer UNO-Vermittlung verhindert werden konnte. Auch liegt zwischen dem schiitischen Iran und den sunnitischen Taliban eine religiöse Kluft.

Experte zur Lage in Afghanistan

Thomas Ruttig von der Denkfabrik Afghanistan Analysts Network spricht über die Lage in Afghanistan, die Vorhaben der Taliban sowie die Debatte über Abschiebungen nach Afghanistan.

Dennoch hat der Iran eine lange gemeinsame Geschichte mit den Taliban. Wiederholt gab es Berichte über Unterstützung, Beherbergung und Ausstattung von Taliban-Kämpfern durch den Iran. 2017 teilte der oberste US-Kommandeur in Afghanistan dem US-Kongress mit, dass der Iran die Taliban dabei unterstütze, die US-Mission im Land zu untergraben.

Es gebe nicht nur strategische Gründe für Teheran, die Taliban zumindest anzuerkennen, sondern auch ideologische und wirtschaftliche, so das Magazin „Foreign Policy“. Zuletzt fand auch politisch eine deutliche Annäherung statt. Der Iran sei „Nachbar und Bruder Afghanistans“ und werde das Land weiterhin unterstützen, so Präsident Raisi nach der Machtübernahme der Taliban.

Schlüsselrolle im Konflikt

Sowohl für den Iran als auch für Pakistan, denen nun eine Schlüsselrolle in der Afghanistan-Krise zukommt, bedeutet der Sieg der Taliban freilich ein großes Risiko. „Tatsächlich wird es beiden schwerfallen, sich nicht inmitten einer humanitären und sicherheitspolitischen Krise wiederzufinden, nicht zuletzt dank einer potenziellen Flüchtlingswelle, für die beide nicht gut gerüstet sind“, so das Magazin „Politico“.

Pakistan sehe das Risiko, dass sich islamistische Gruppen nun auch im eigenen Land gestärkt fühlen. Der Iran hoffe auf zumindest nachbarschaftliche Verhältnisse. Die Reaktionen der beiden Nachbarstaaten hätten großen Einfluss in der Region, so „Politico“. „Weder Pakistan noch der Iran werden sich einfach zurücklehnen.“

Für die USA, Europa und die NATO, die von den Ereignissen in Afghanistan offenbar überrumpelt wurden, bleiben nun nur Appelle. In Gespräche über die Zukunft Afghanistans und die Beziehungen zu den Taliban müssten auch die beiden wichtigen Nachbarländer einbezogen werden – alleine schon, um die Fluchtbewegung zu beschränken.

Sorge vor nuklearen Risiken

Der frühere Nationale Sicherheitsberater der USA, John Bolton, machte noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam. „In Afghanistan drohen neue nukleare Risiken, nicht morgen oder in 30 Tagen, aber mittelfristig“, sagte Bolton den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland und verwies dabei auf die Atomprogramm der Nachbarstaaten.

„In Afghanistan ging es nie nur um Afghanistan“, sagte Bolton den Zeitungen. Die Präsenz der USA in dem Land habe immer auch dazu gedient, Informationen aus den zwei „problematischen Nachbarländern“ mit Nuklearprogrammen zu sammeln. Dass auch die Taliban an Atomwaffen interessiert seien, wisse die US-Regierung bereits seit 2001. „Wir dürfen jetzt bitte nicht naiv sein“, so Bolton.

Dass Atomwaffen nun auf dem Umweg über die Nachbarstaaten in die Hände der Taliban fallen könnten, glaubt Gauster nicht. Zwar setzte Pakistan in der Vergangenheit immer wieder auf „kontrollierte Konfrontationen“ mit Indien, also taktisch eingesetzte Provokationen. Die Lage habe sich aber intern stabilisiert. Zudem übe China Druck auf die Taliban aus, um sie zu einer deeskalierenden Politik zu bewegen. Wichtig sei nun, wie sich die Einflüsse der Nachbarstaaten auswirkten, so Gauster. „Man muss jetzt einmal abwarten, wie sich das System entwickelt. Unmittelbar sehe ich keine Gefahr.“