Taliban-Kämpfer in der Nähe von Kabul
AP/Rahmat Gul
„Lücke“ in Afghanistan

Alle Augen auf China und Russland

Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan mischt in geopolitischer Hinsicht die Karten neu. Mehrere Akteure machen in der Region bereits erste Schachzüge, vor allem Russland und China stehen dabei unter Beobachtung. Beide Staaten haben spezifische Interessen, die Machtübernahme der Taliban bringt sie aber auch in heiklen Zugzwang.

Seit Tagen ergießt sich aus allen möglichen russischen und chinesischen Kanälen Spott über die USA: Das desaströse Ergebnis des 20-jährigen US-Einsatzes sei ein „Beweis für das dauerhafte Scheitern amerikanischer Kultur“, twitterte etwa die chinesische Außenamtssprecherin Hua Chunying. Ähnliche Töne kamen aus Moskau: Die Welt betrachte „mit Horror das Ergebnis eines weiteren historischen Experiments Washingtons“, so Ministeriumssprecherin Marija Sacharowa.

Doch diese – im Ringen der Weltmächte erwartbare – Häme kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Machtübernahme der radikalislamischen Taliban auch Russland und China vor gravierende Probleme stellt. Beide Staaten kamen nun auffällig schnell ins diplomatische Handeln und bemühten sich, Kontakt zu den Taliban aufzunehmen und positive Signale auszusenden. Während westliche Botschaften in den Tagen der Machtübernahme schlossen und das Personal ausfliegen ließen, blieben die Vertretungen Moskaus und Pekings demonstrativ geöffnet.

„Taliban haben guten Eindruck gemacht“

Schmeichelnde Worte gab es ebenso: „Die Taliban haben einen guten Eindruck auf uns gemacht“, so der russische Botschafter in Kabul, Dmitri Schirnow. Auch China zeigte sich „zu freundlichen Beziehungen bereit“ und hatte bereits vor dem Machtwechsel ein hochrangiges Treffen zwischen dem Taliban-Vize Abdul Ghani Baradar und Außenminister Wang Yi arrangiert.

Treffen zwischen dem chinesischen Außenminister Wang Yi und Taliban-Vize Abdul Ghani Baradar
AP/Xinhua/Li Ran
Taliban-Vize Abdul Ghani Baradar und der chinesischen Außenminister Wang Yi Ende Juli

In Russland sind die Taliban zwar nach wie vor als Terrororganisation eingestuft, das Land hält aber schon seit Jahren Gesprächskanäle mit den Islamisten offen. „Wir haben die Taliban als Machtfaktor gesehen, der in der Zukunft eine zentrale Rolle spielen wird – auch wenn sie nicht die ganze Macht erlangen“, so Russlands Sondergesandter für Afghanistan, Samir Kabulow. Nun bleibe man angesichts der aktuellen Entwicklungen ruhig, aber wachsam.

Angst vor Terror und Islamismus an der Grenze

Denn ein von den Taliban ausgehendes Risiko durch grenzüberschreitenden Terrorismus und Islamismus bereitet der Region Kopfzerbrechen – frisch sind noch die Erinnerungen an die letzte Taliban-Herrschaft in Afghanistan und die damit verbundenen Konflikte. Hochgradig alarmiert zeigten sich etwa die afghanischen Nachbarstaaten Tadschikistan und Usbekistan. Ersterer verfügt über eine 1.400 Kilometer lange, nur schwer zu sichernde Grenze zu Afghanistan.

Hilfe für die beiden Ex-Sowjetrepubliken kam aus Russland – Moskau führte noch vor der Machtübernahme der Taliban gemeinsam mit den beiden Staaten mehrere Militärmanöver durch und versprach außerdem eine Million Dollar für die Grenzsicherung. Beobachter orteten darin einerseits eine Kraftdemonstration Richtung Taliban, andererseits aber auch Zeichen dafür, dass sich Russland weiter als Ordnungsmacht in der zentralasiatischen Region positionieren möchte.

Truppenübung an der Grenze zu Afghanistan durch Russland, Usbekistan und Tadschikistan
Reuters/Didor Sadulloev
Militärmanöver kurz vor der Machtübernahme der Taliban an der Grenze

Es sei nun jedenfalls zu verhindern, dass Afghanistan „zusammenbricht“ und dass „Terroristen“ aus Afghanistan in die Nachbarländer gelangen, etwa indem sie sich „als Flüchtlinge ausgeben“, sagte der russische Präsident Wladimir Putin am Freitag.

Chinas Problem mit den Nachbarn

Weniger auf militärische, denn auf wirtschaftliche Präsenz in der Region setzt hingegen schon seit einigen Jahren China. Dabei hat die Volksrepublik im Gegensatz zu Russland tatsächlich eine Grenze mit Afghanistan – und damit auch ein handfestes Problem. Diese ist zwar nur 76 Kilometer lang und befindet sich in einer spärlich besiedelten Hochgebirgsregion, in der aktuellen Lage hat sie aber besondere Signifikanz.

Hinter der Grenze beginnt die autonome Region Xinjiang, in der Uiguren und andere muslimische Minderheiten leben. Seit Jahren schwelt dort ein ethnisch-religiöser Konflikt, in dem es immer wieder auch mit Gewalt verbundene Unabhängigkeitsbestrebungen gab. Seit einigen Jahren geht China dort mit großer Härte vor, unter anderem mittels Verfolgung, Masseninternierung und weitreichenden und gravierenden Menschenrechtsverstößen.

Analyse: Chinas Absichten in Afghanistan

ORF-Korrespondent Josef Dollinger beschreibt, wie die „freundlichen Beziehungen“ von China zu den Taliban in Afghanistan aussehen könnten.

Dass es nun seitens Afghanistan Unterstützung für die Uiguren in Xinjiang geben könnte, gehört zu Pekings großen Bedenken. Daher wurde bereits bei der Kontaktaufnahme mit den Taliban die Forderung gestellt, dass die neuen afghanischen Machthaber „klar“ mit allen terroristischen Gruppen und auch Separatisten brechen müssten, die in Xinjiang für eine Unabhängigkeit kämpften.

Geld gegen Stabilität

Im Gegenzug stellte Peking den Taliban politische und diplomatische Unterstützung in Aussicht. Dabei kann China als Mitspieler ohne belastende kriegerische Vergangenheit auftreten – im Gegensatz zu Russland, das auch vor dem Hintergrund des schmählichen Abzugs der Roten Armee aus Afghanistan 1989 nach zehn Jahren Krieg agiert.

Noch wichtiger dürften aber mögliche wirtschaftliche Perspektiven sein. Denn die Taliban müssen nun in einem armen, auf Hilfsgelder angewiesenen Land mit gravierenden Infrastruktur- und Wirtschaftsproblemen zurechtkommen. In diese Bresche könnte auch China springen.

Peking sei bereit, Hunderte Millionen in den Wiederaufbau kritischer Infrastruktur in Afghanistan zu stecken, zitierte die „Financial Times“ asiatische Diplomaten, die ungenannt bleiben wollten. Auch die Taliban richteten am Donnerstag in chinesischen Medien offen eine „Einladung“ an Peking, beim Wiederaufbau mitzuhelfen.

Rahmenbedingungen zu schlecht

Es wäre nicht das erste Mal, dass die Führung in Peking mit dem Bau von Infrastruktur in anderen Ländern politische Abhängigkeiten schafft. Zudem wäre Stabilität in Afghanistan für China von großem Interesse. Immerhin verfolgt die Volksrepublik in der Region ambitionierte Pläne für das Handelsnetz „Belt and Road Initiative“, das auch immer wieder als „Neue Seidenstraße“ bezeichnet wird.

Dass es hier kurzfristig zu einer Einbindung Afghanistans kommen könnte, halten Fachleute aber für unrealistisch – zu unberechenbar und instabil ist die Lage in Afghanistan, so die Expertin des Mercator Institute for China Studies (MERICS), Francesca Ghiretti, in einem „Zeit“-Artikel. Bisherige Projekte Chinas in Afghanistan seien bereits gescheitert, zu unsicher ist die Gesamtsituation.

Reich an Bodenschätzen

Dabei hätte Afghanistan nicht nur aufgrund seiner Lage großes Potenzial. Das Land verfügt auch über beachtliche Bodenschätze, die aufgrund der politischen Instabilität bis dato kaum genutzt wurden. Darunter befinden sich Rohstoffe wie Kupfer, Gold, Öl und Aluminium, vor allem aber auch große Lithiumvorkommen. Das Leichtmetall spielt eine wesentliche Rolle in der Produktion von Akkus und ist damit, etwa im Hinblick auf die Fertigung von E-Autos, enorm gefragt.

Die EU zeigte sich über das russische und chinesische Engagement besorgt. EU-Chefdiplomat Josep Borrell rechtfertigt auch mit diesen Entwicklungen die Offenheit für Gespräche mit den Taliban. „Was wir nicht tun können, ist, den Chinesen und Russen die Kontrolle über die Lage zu überlassen“, sagte er am Donnerstag.