Talibankämpfer in der Nähe von Kabul
AP/Rahmat Gul
UNO-Dokument

Jagd der Taliban auf US- und NATO-Helfer

Einem UNO-Dokument zufolge intensivieren die Taliban ihre Jagd auf alle Personen, die mit den NATO- und US-Streitkräften zusammengearbeitet haben. Die Flucht aus Afghanistan wird unterdessen zunehmend schwieriger – auf dem Kabuler Flughafen ereigneten sich Augenzeugen zufolge „dramatische Szenen“. Die Taliban wiesen die Vorwürfe jedoch zurück. Sie würden allen eine sichere Ausreise ermöglichen.

Das an sich vertrauliche Papier wurde vom norwegischen Centre for Global Analyses erstellt, das die UNO mit nachrichtendienstlichen Informationen versorgt, so die BBC am Donnerstag. „Die Taliban nehmen Familienangehörige von Zielpersonen fest und/oder drohen, sie zu töten oder zu verhaften, wenn sie sich nicht den Taliban ausliefern“, heißt es in dem Dokument, das dem Sender vorliegt.

Besonders gefährdet seien Personen, die eine Position beim Militär, bei der Polizei und bei Ermittlungsbehörden innehätten, heißt es. „Die Taliban haben vor der Übernahme aller größeren Städte eine Vorauswahl von Personen getroffen.“ Laut dem Dokument würden die Taliban Personenkontrollen durchführen. Teile des ausländischen Personals ließen sie ausreisen, die Lage auf dem Flughafen sei aber weiterhin „chaotisch“.

Menschen versammeln sich außerhalb des Flughafenareals, nachdem sie Schüsse vernommen hatten
Reuters/Asvaka News
Tausende befinden sich vor dem Flughafengelände – die Lage ist „chaotisch“

„Dramatische Szenen“ auf Flughafen in Kabul

Das bestätigte auch der deutsche Bundeswehrgeneral Jens Arlt. Er sprach am Donnerstag von „dramatischen Szenen“. Einheimische Helfer deutscher Organisationen berichteten von verstopften und teils unpassierbaren Straßen. US-Soldaten ließen sie bei den Eingängen nicht vor, sagten zwei Ortskräfte der dpa. „Die amerikanischen Soldaten lassen nur ihre Leute durch“, sagte eine Ortskraft.

CNN-Journalistin Clarissa Ward, die als eine von wenigen ausländischen Journalisten noch an Ort und Stelle ist, sprach von einem „Tornado des Wahnsinns“. Ihr zufolge warfen Menschen Babys über den Zaun, um sie in Sicherheit zu bringen. Die Taliban seien mit Peitschen und Waffen unterwegs, um die Menschen zurückzuhalten.

Merkel: „Hoch komplizierter Einsatz“

„Es ist sehr, sehr turbulent alles“, sagte Arlt, der den deutschen Evakuierungseinsatz an Ort und Stelle führt, in einer Onlinepressekonferenz des Verteidigungsministeriums, an der er telefonisch teilnahm. „Sie werden vielleicht den einen oder anderen Schuss im Hintergrund hören. Sie sehen die verzweifelten Augen der Afghanen und auch der Staatsbürger unterschiedlicher Nationen, die einfach versuchen, in den inneren Bereich des Kabul International Airports zu gelangen, das ist schon dramatisch, was wir sehen.“

Arlt sagte, „unterschiedliche Vertreter“ der deutschen Seite versuchten, in den Außenbereichen „unsere Leute“ zu finden. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bezeichnete die Evakuierung als „hoch komplizierten Einsatz“. Die deutsche Bundeswehr flog nach Angaben des deutschen Verteidigungsministeriums aus Kabul inzwischen mehr als 1.200 Menschen aus. Allein am Donnerstag wurden mit zwei Bundeswehrflugzeugen rund 380 Menschen aus Afghanistan geholt.

Taliban kontrollieren Zugang zum Flughafen

Unter der Kontrolle der Taliban werden in Afghanistans Hauptstadt Kabul vor dem Flughafen Checkpoints errichtet. Viele Menschen dürfen nicht durch – Hunderte Personen warten vor dem Flughafen.

Pilot schildert schwierige Lage

Die tschechische Regierung schloss ihre Evakuierungsaktion in Afghanistan am Donnerstag bereits ab. Mit drei Flügen hatte Tschechien den Angaben zufolge insgesamt knapp 200 Menschen aus Kabul ausgeflogen, darunter 170 afghanische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger.

Ein Pilot der tschechischen Armee beschrieb die schwierige Lage im afghanischen Luftraum. Den Flugbetrieb würden die Besatzungen der Maschinen per Funk untereinander koordinieren. Die Landung in Kabul erfolge dann ausdrücklich auf eigenes Risiko.

Der Kontrollturm verfüge über kein Radar, obwohl wegen der hektischen Evakuierung auf dem Flugplatz großer Betrieb herrsche. „Hut ab vor allen Piloten, die dort gewesen sind“, sagte der erfahrene Armeepilot, dessen Name aus Sicherheitsgründen nicht genannt wurde.

USA wollen bis zu 65.000 Helfer ausfliegen

Auch die französische und die spanische Regierung haben rund 250 Menschen aus Afghanistan nach Paris und Madrid ausgeflogen. Dänemark brachte am Donnerstag rund 320 Menschen aus der afghanischen Hauptstadt in Sicherheit.

Die USA wollen auch etwa 50.000 bis 65.000 Helferinnen und Helfer einschließlich ihrer Familien in Sicherheit bringen. US-Präsident Joe Biden legte sich nicht fest, ob der Einsatz des US-Militärs auch dafür verlängert würde.

Hoffen und Bangen in Afghanistan

In Afghanistan herrscht weiter Chaos. Auf dem Flughafen in Kabul vertreiben die Taliban Einheimische, die das Land verlassen wollen, mit Schüssen. Doch die Bevölkerung leistet Widerstand und ruft zu Protesten auf, die allerdings gewaltsam niedergeschlagen werden.

Dem US-Militär zufolge sind inzwischen mehrere Tore des Flughafens in der afghanischen Hauptstadt geöffnet. Bei der Evakuierungsmission aus Afghanistan habe man in den vergangenen 24 Stunden nach eigenen Angaben mehr als 2.000 Menschen aus Kabul ausgeflogen, sagte Generalmajor William Taylor am Donnerstag im US-Verteidigungsministerium.

Seit Beginn der US-Evakuierungsoperation am 14. August liege diese Zahl bei rund 7.000 Menschen, seit den ersten Flügen amerikanischer Streitkräfte Ende vergangenen Monats bei rund 12.000. Es seien nun mehr als 5.200 US-Soldaten auf dem Flughafen, um die Evakuierung zu schützen. Auf dem Flughafen warten nach Angaben des US-Außenministeriums inzwischen rund 6.000 Menschen, die alle Voraussetzungen für die Ausreise erfüllen und bald ausgeflogen werden dürften.

Menschenmenge am Flughafen von Kabul
AP/Shekib Rahmani
Einige tausend US-Soldaten sind derzeit auf dem Flughafen Kabul im Einsatz

Taliban: „Halten uns an Zusagen bei Evakuierung“

Die Taliban halten sich nach eigenen Angaben an ihre Zusagen bei der Evakuierung. „Wir ermöglichen eine sichere Ausreise nicht nur für Ausländer, sondern auch für Afghanen“, sagte ein Taliban-Vertreter der Nachrichtenagentur Reuters. „Wir verhindern jede Form von gewalttätigen, verbalen Auseinandersetzungen auf dem Flughafen zwischen Afghanen, Ausländern und Taliban-Mitgliedern.“

Trump: Ex-US-Stützpunkte bombardieren

Das US-Militär sollte nach Ansicht des ehemaligen Präsidenten Donald Trump seine früheren Stützpunkte in Afghanistan in Grund und Boden bombardieren. Zunächst sollten alle US-Bürger und alle Ausrüstung außer Landes gebracht werden, erklärte Trump am Donnerstag. „Dann zerbombt man die Stützpunkte.“ Damit gäbe es „kein Chaos, keine Toten“, und die Afghanen „wüssten nicht mal, dass wir weg sind“, behauptete Trump. Der Republikaner kritisiert seinen Nachfolger Biden wegen der chaotischen Szenen beim Abzug aus Afghanistan. Den Anstoß für einen kompletten Abzug der US-Truppen hatte der damalige Präsident Trump gegeben.

Appell von humanitären Organisationen

Humanitäre Organisationen aus aller Welt appellierten an Staaten und andere Geldgeber, ihre Hilfen für Afghanistan nicht einzustellen und ihre Grenzen für Geflüchtete offen zu halten. „Die Menschen in Afghanistan brauchen unsere Hilfe jetzt mehr denn je“, hieß es am Donnerstag in einer Stellungnahme, die die Spitzen von 17 humanitären Organisationen unterzeichnet haben, darunter das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das UNO-Kinderhilfswerk (UNICEF).

„Wir werden in Afghanistan bleiben und liefern“, hieß es weiter. Die Vereinten Nationen wollen allerdings aus Sicherheitsgründen rund ein Drittel ihrer internationalen Kräfte in Afghanistan, rund 100 Menschen, aus Sicherheitsgründen vorerst nach Kasachstan verlegen. An Ort und Stelle sind rund 3.000 einheimische Beschäftigte der UNO-Organisationen im Einsatz.

Anti-Taliban-Proteste weiten sich aus

Unterdessen gingen in Afghanistan auch die Proteste gegen die Machtergreifung der radikalislamischen Taliban weiter. Nach Protesten in zwei Städten am Vortag, die mit Gewalt niedergeschlagen wurden, habe es am Donnerstag auch eine Demonstration anlässlich des afghanischen Nationalfeiertags in Kabul gegeben, wie die „New York Times“ berichtete. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar soll es bei Protesten auch zu Todesopfern gekommen sein.