Afghanen warten in der Nähe des Flughafens von Kabul auf die Gelegenheit mit einer US-Maschine das Land zu verlassen
APA/AFP/Wakil Kohsar
Wettlauf gegen die Zeit

Verzweiflung rund um Flughafen Kabul

Die Verzweiflung rund um den Flughafen von Afghanistans Hauptstadt Kabul wird angesichts des steigenden Zeitdrucks größer. Schließlich hängen die laufenden Rettungsaktionen mehrerer Länder an der Präsenz der US-Truppen. Noch ist nicht klar, wie lange sie bleiben – auch wenn am Freitag die Evakuierungen nach zwischenzeitlicher Kritik am schleppenden Verlauf wieder an Tempo gewannen. US-Präsident Joe Biden äußerte sich am Abend zum Stand der Dinge.

Laut Augenzeugenberichten halten sich am Eingang zum zivilen Teil des Airports, der an einem großen Kreisverkehr liegt, weiterhin Hunderte Menschen auf, die verzweifelt versuchen, auf das Gelände und dann mit Hilfe von westlichen Flugzeugen außer Landes zu kommen. Bereits den fünften Tag in Folge hält der Ansturm von Menschen, die dem befürchteten brutalen Regime der Taliban entgehen wollen, an.

Entsprechend herrschen Chaos und Gewalt: Die Menge am Zugang zum militärischen Teil des Airports sei groß und unberechenbar, berichtete ein Reporter des US-Senders CNN. Kämpfer der militant-islamistischen Taliban feuerten dort in die Luft und schlugen mit Peitschen, um die Leute zu vertreiben. Bilder zeigten, wie US-Soldaten in die Luft schossen, damit die Menschenmenge von den Außenmauern zurückweicht.

Biden: „Wir werden Sie nach Hause bringen“

Die Evakuierungen hängen aber vom Schutz der US-Truppen maßgeblich ab. Mittlerweile sind 5.800 Soldaten im Einsatz, laut US-Verteidigungsminister Lloyd Austin soll diese Zahl in den kommenden Tagen auf rund 6.000 steigen. Zuletzt wurde der 31. August als Datum genannt, an dem die USA ihre Truppen aus Afghanistan abgezogen haben wollen.

Bei einer Pressekonferenz am Freitag sagte Biden, dass er alle ausreisewilligen Amerikaner in Afghanistan die Ausreise aus dem Land ermöglichen werde: „Wir werden Sie nach Hause bringen.“ Auf Nachfrage sagte der US-Präsident, die Zusage gelte auch für Afghanen, die den US-Einsatz in Afghanistan unterstützt hätten. Die USA versuchten außerdem, so viele gefährdete Afghanen wie möglich in Sicherheit zu bringen, die beispielsweise für Hilfsorganisationen gearbeitet hätten. Auf das fixe Abzugsdatum wollte er sich nicht festlegen – es sei nun „Fokus“ der USA, die Menschen auszufliegen.

Taliban: Verhindern Ausreise nicht

Die Taliban versuchen einem Vertreter der Islamisten zufolge nicht, Afghanen am Verlassen des Landes über den Flughafen zu hindern. „Wir weisen nur diejenigen zurück, die keine gültigen Reisepapiere haben, aber die das Chaos am Gate des Kabuler Flughafens verschlimmern“, sagte ein Taliban-Vertreter am Freitag der Nachrichtenagentur Reuters.

Usbekistan schickte einem russischen Medienbericht zufolge 150 afghanische Flüchtlinge zurück in ihre Heimat. Das sei entsprechend einer Vereinbarung mit den Taliban geschehen, zitierte die Nachrichtenagentur TASS am Freitag das usbekische Außenministerium. Die Flüchtlinge hätten Sicherheitszusagen erhalten.

Deutscher angeschossen, Berichte über Tötungen

Weitere gewalttätige Zwischenfälle sind dokumentiert: Auf dem Weg zum Flughafen erlitt ein deutscher Zivilist eine Schussverletzung. Er sei nicht in Lebensgefahr, hieß es aus Berlin. Zuvor hatte eine Beraterin der afghanischen Mission bei den Vereinten Nationen in den USA auf Twitter geschrieben, einem Familienmitglied sei am Donnerstag auf dem Flughafen Kabul in den Kopf geschossen worden.

Ein weiterer tödlicher Vorfall wurde am Freitag bekannt: Bei der Verfolgung eines Journalisten der Deutschen Welle (DW) sollen Taliban-Kämpfer einen seiner Familienangehörigen erschossen und einen weiteren schwer verletzt haben. Die Taliban seien auf der Suche nach dem Reporter von Haus zu Haus gegangen. Doch lebt dieser bereits in Deutschland. Die anderen Bewohner des Hauses hätten in letzter Sekunde entkommen können und befänden sich nun auf der Flucht.

„Lage auf dem Flughafen Kabul äußerst unübersichtlich“

In einem Schreiben der deutschen Botschaft an Menschen, die auf einen Flug hoffen, hieß es am Freitag: „Die Lage auf dem Flughafen Kabul ist aber äußerst unübersichtlich. Es kommt an den Gates immer wieder zu gefährlichen Situationen und bewaffneten Auseinandersetzungen. Der Zugang zum Flughafen ist derzeit möglich. Zwischendurch kann es aber immer wieder kurzfristig zu Sperrungen der Tore kommen, auch weil so viele Menschen mit ihren Familien versuchen, auf das Gelände zu kommen. Wir können Sie leider nicht vorab informieren, wann die Tore geöffnet sein werden.“

Kabul: 6.000 Menschen warten auf Rettung

18.000 Menschen sollen Afghanistan per Flugzeug bereits verlassen haben, 6.000 weitere Menschen warten in der Hauptstadt Kabul noch auf ihren Flug. Westliche Länder wollen die Rettungsmissionen jetzt ankurbeln.

Laut USA 6.000 Menschen auf Flughafen

In der Nacht auf Freitag brachten deutsche Bundeswehr-Maschinen erneut Hunderte Menschen aus der afghanischen Hauptstadt heraus. Nach Angaben des US-Außenministeriums warten auf dem Flughafen Kabul rund 6.000 Menschen, die alle Voraussetzungen für die Ausreise erfüllen. Aus Washington hieß es, das US-Außenministerium schicke zusätzliche Konsularbeamte nach Katar und Kuwait, um dort die Weiterreise der Menschen zu organisieren. Außerdem seien weitere Beamte in Kabul gelandet – Ziel sei es, so schnell wie möglich so viele Menschen wie möglich aus dem Land zu bringen.

Österreicher auf deutschen Evakuierungsflügen

Auf den deutschen Evakuierungsflügen sollen nach Angaben des Außenministeriums auch die Österreicher, die sich noch in Afghanistan befinden, untergebracht werden. Bisher gelang es laut den Angaben, insgesamt vier Personen außer Landes zu bringen. „Einige Dutzende“ Österreicher mit afghanischen Wurzeln halten sich laut Außenministerium derzeit noch in und um Kabul auf.

Die Zahlen würden sich „laufend ändern“, hieß es am Freitag weiter. Am Donnerstag war noch von 50 Personen die Rede. Ein aus Mitarbeitern des Außenministeriums und Bundesheerangehörigen bestehendes Krisenteam, das die noch in Afghanistan befindlichen Österreicher bei der Ausreise unterstützen soll, werde unterdessen mit der „ersten für heute geplanten Maschine der deutschen Bundeswehr“ von Taschkent nach Kabul reisen.

Menschen versammeln sich außerhalb des Flughafenareals, nachdem sie Schüsse vernommen hatten
Reuters/Asvaka News
Tausende befinden sich vor dem Flughafengelände, die Lage ist „chaotisch“

Mitarbeiter des US-Verteidigungsministeriums seien in engem Kontakt mit den Taliban außerhalb des Flughafens, sagte Pentagon-Sprecher John Kirby. „Wir wollen nicht, dass jemand belästigt oder verletzt wird.“ Kirby betonte, dass man keinen kompletten Überblick darüber habe, was außerhalb des Flughafens passiere und ob auch Menschen mit US-Pässen oder Visa von den Taliban schikaniert würden. Man habe auf dem Flughafen zusätzliche Gates geöffnet, um die Evakuierung zu beschleunigen.

Letzter britischer Flug schon in fünf Tagen?

Die NATO will unterdessen ihre Bemühungen bei den Evakuierungen aus Afghanistan verdoppeln. Auch Großbritannien will den Zeitplan für den Abzug beschleunigen. Der letzte britische Evakuierungsflug soll nach Plänen der britischen Regierung Kabul schon in fünf Tagen verlassen, wie die Zeitung „The Times“ berichtete. Laut der Zeitung soll den Ministern Anfang der Woche mitgeteilt worden sein, dass der letzte Evakuierungsflug am Dienstag vor dem geplanten Abzug der US-Streitkräfte starten müsse.

Menschen aus Afghanistan bei ihrer Landung in Dubai
Reuters/Spain Ministry Of Defense
Geflüchtete bei der Landung einer Maschine des spanischen Militärs in Dubai

Neue Vorwürfe gegen US-Regierung

Unterdessen wurden neue Vorwürfe laut, die US-Regierung habe nicht rechtzeitig auf Warnungen gehört. CNN berichtete, im Juli hätten US-Diplomaten ein geheimes Schreiben an US-Außenminister Antony Blinken geschickt und darin schnelles Handeln gefordert. „Soweit ich weiß, wurde in dem Telegramm der mögliche Sturz der afghanischen Regierung nach dem Abzug der US-Truppen am 31. August vorausgesagt“, sagte der stellvertretende Nationale Sicherheitsberater Jonathan Finer dazu.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas kritisierte unterdessen laut Reuters die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes (BND). „Der BND hat offensichtlich eine falsche Lageeinschätzung vorgenommen (…)“, sagte Maas dem „Spiegel“. Doch berichtete das Magazin auch, dass der BND bereits im Dezember vor der Machtübernahme der Taliban gewarnt hatte. Allerdings seien die Beamten in den zuständigen Ministerien kaum auf Gehör gestoßen, berichtete das Magazin unter Berufung auf Angaben aus Sicherheitskreisen.

NATO warnt Taliban

Die NATO forderte die Taliban auf, die laufenden Evakuierungen aus Afghanistan nicht zu behindern. „Wir erwarten von den Taliban, dass sie allen ausländischen Staatsangehörigen und Afghanen, die das Land verlassen wollen, die sichere Ausreise ermöglichen“, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag nach einer Sondersitzung der Außenminister der NATO-Staaten. Es sei die „höchste Priorität“ des Bündnisses, Menschen in Sicherheit zu bringen.

Die USA wollen nach Angaben von Stoltenberg den Evakuierungseinsatz auf dem Flughafen von Kabul in weniger als zwei Wochen beenden. Die USA hätten signalisiert, dass ihr Zeitplan am 31. August ende, so Stoltenberg. Er bestätigte aber, dass sich mehrere Alliierte bei den Gesprächen für die Möglichkeit einer Verlängerung des Einsatzes ausgesprochen haben. Es gehe darum, mehr Leute aus dem Land zu bringen, sagte er.

Putin: Realität in Afghanistan akzeptieren

Russlands Präsident Wladimir Putin mahnte unterdessen an, die Realitäten in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban zu akzeptieren. Schließlich kontrollierten die Taliban den größten Teil des Landes, sagte er nach einem Treffen mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel in Moskau. Er kritisierte zudem, dass es kontraproduktiv sei, den Menschen in Afghanistan eine bestimmte Ordnung überstülpen zu wollen.

Gleichzeitig warnte er die Taliban davor, ihre Macht über Afghanistan hinaus auszuweiten. „Die Taliban dürfen nicht über die Grenzen des Landes hinwegschreiten“, so Putin. Merkel bat Moskau, in Gesprächen mit den Taliban auf die Möglichkeit hinzuwirken, afghanische Ortskräfte in Sicherheit zu bringen.

Sorge vor Racheakten

Unterdessen steigt die Sorge vor gewaltsamen Racheakten der Taliban nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan. Die G-7-Staaten reagierten alarmiert auf entsprechende Berichte und forderten die Islamisten auf, die von ihnen zugesagte Sicherheit von Zivilisten auch wirklich zu gewährleisten. Diese Botschaft ging von einer Telefonkonferenz der Außen- und Entwicklungshilfeminister der G-7-Staaten aus, zu denen die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland Italien, Kanada und Japan sowie Vertreter der EU gehören.

Amnesty International berichtete unter Berufung auf Augenzeugen von „brutalen Tötungen“ durch die Taliban in der Provinz Ghazni im Juli. In dem Dorf Mundarakht im Bezirk Malistan seien sechs Männer der schiitischen Minderheit der Hazara erschossen und drei zu Tode gefoltert worden, wie die Menschenrechtsorganisation in eine Aussendung am Freitag mitteilte. Dabei sei ein Mann mit seinem eigenen Schal erwürgt und seine Armmuskeln abgetrennt worden.