Menschen aus Afghanistan nahe dem Militärflughafen in Kabul
APA/AFP/Wakil Kohsar
Chaos auf Flughafen

Biden verteidigt Luftbrücke in Kabul

Tausende Menschen versuchen noch immer, die afghanische Hauptstadt Kabul zu verlassen, auch am Freitag haben sich chaotische Szenen auf und um den Flughafen abgespielt. US-Präsident Joe Biden verteidigte am Freitag das US-Vorgehen abermals und sprach von einer der „schwierigsten Luftbrücken der Geschichte“. Er versprach, alle US-Amerikaner und auch Ortskräfte auszufliegen. Auf den 31. August als Abzugstermin wollte er sich nicht festlegen.

Bei einer Pressekonferenz sagte Biden, dass er allen ausreisewilligen Amerikanern in Afghanistan die Ausreise aus dem Land ermöglichen werde: „Wir werden Sie nach Hause bringen.“ Auf Nachfrage sagte der US-Präsident, die Zusage gelte auch für Afghanen, die den US-Einsatz in Afghanistan unterstützt hätten.

Die USA versuchten außerdem, so viele gefährdete Afghaninnen und Afghanen wie möglich in Sicherheit zu bringen, die beispielsweise für Hilfsorganisationen gearbeitet hätten. Auf das fixe Abzugsdatum wollte er sich nicht festlegen – es sei nun „Fokus“ der USA, die Menschen auszufliegen.

Menschen aus Afghanistan besteigen eine C-17 Globemaster III
Reuters/Uscentcom/Nicholas Guevara
Die Situation, hier auf einem Bild von Mittwoch, ist seit Tagen angespannt

Die dramatischen Ereignisse in Afghanistan haben nach Ansicht von Biden keine Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der USA. „Ich habe nicht erlebt, dass unsere Glaubwürdigkeit von unseren Verbündeten in der ganzen Welt infrage gestellt wird“, sagte Biden. Er verwies darauf, dass er über den US-Truppenabzug mit den G-7- und den NATO-Partnern gesprochen habe. Alle hätten Bescheid gewusst und zugestimmt, so Biden. Die USA wollen eigentlich bis zum 31. August den Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan abschließen.

Unklar, wie viele Menschen gerettet werden müssen

Biden zufolge werde man den Einsatz von Soldaten prüfen, um Menschen für eine Evakuierung zum Flughafen von Kabul zu bringen. Eine Vergrößerung der gesicherten Zone um den Airport könnte „unerwünschte Folgen“ haben, sagte Biden. Wie viele Schutzsuchende die USA genau in Sicherheit bringen müssen, ist nach Angaben des Verteidigungsministeriums unklar. Biden sprach am Donnerstag von etwa 50.000 bis 65.000 Helfern einschließlich ihrer Familien.

Die US-Streitkräfte wollen die Zahl der täglich ausgeflogenen Menschen deutlich steigern. Flugzeuge stehen dem Pentagon zufolge für 5.000 bis 9.000 Menschen pro Tag bereit. Seit vergangenem Samstag hätten die USA 13.000 Menschen aus Afghanistan ausgeflogen, sagte Biden.

Menschen versammeln sich außerhalb des Flughafenareals, nachdem sie Schüsse vernommen hatten
Reuters/Asvaka News
Tausende befinden sich vor dem Flughafengelände, die Lage ist „chaotisch“

US-Amerikaner werden Biden zufolge an den Checkpoints zum Flughafen in der Regel nicht aufgehalten. „Soweit wir wissen, werden an den Kontrollpunkten der Taliban Personen mit amerikanischen Pässen durchgelassen“, sagte Biden. Man habe eine entsprechende Vereinbarung mit den Taliban und stünde mit ihnen regelmäßig in Kontakt.

Taliban: Verhindern Ausreise nicht

In den vergangenen Tagen gab es aber Berichte, wonach die Taliban niemanden – unabhängig von ihrem Pass – an den Kontrollpunkten vorbeilassen. Die US-Botschaft in Kabul hat amerikanischen Staatsbürgern auch mitgeteilt, dass die Regierung „keine sichere Anreise zum Flughafen gewährleisten kann“, schrieb der „Guardian“.

Lage in Afghanistan spitzt sich zu

Die ORF-Korrespondenten Paul Krisai (Moskau), Benedict Feichtner (Brüssel) und Christophe Kohl (Washington) kommentieren die Lage in Afghanistan.

Die Taliban versuchen aber einem Vertreter der Islamisten zufolge nicht, Afghanen am Verlassen des Landes über den Flughafen zu hindern. „Wir weisen nur diejenigen zurück, die keine gültigen Reisepapiere haben, aber die das Chaos am Gate des Kabuler Flughafens verschlimmern“, sagte ein Taliban-Vertreter am Freitag der Nachrichtenagentur Reuters.

Bundeswehr flog bisher 1.700 Menschen aus

Die Evakuierungen hängen vom Schutz der US-Truppen maßgeblich ab. Mittlerweile sind 5.800 Soldaten im Einsatz, laut US-Verteidigungsminister Lloyd Austin soll diese Zahl in den kommenden Tagen auf rund 6.000 steigen. Die deutsche Bundeswehr hat bei ihrem größten Evakuierungseinsatz bisher mehr als 1.700 Menschen aus Afghanistan in Sicherheit gebracht. Wie die Bundeswehr am Freitag weiter mitteilte, handelt es sich dabei um Deutsche, afghanische Ortskräfte sowie Menschen aus insgesamt 36 weiteren Ländern.

Auch österreichische Staatsbürger und Afghanen mit Aufenthaltstitel sollen in Maschinen der deutschen Bundeswehr aus Afghanistan in Sicherheit gebracht werden. Vier Personen wurden bereits auf diese Weise ausgeflogen.

US-Armee brachte 169 Menschen auf Flughafengelände

Unterdessen halfen US-Soldaten 169 Menschen außerhalb des Flughafens, auf das Gelände zu kommen. Biden sagte, dass es sich dabei um „169 Amerikaner“ gehandelt habe. Die Menschen hätten sich „sehr nah“ an der Absperrung zum Flughafen befunden, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, John Kirby. Mit Blick auf die Frage, ob die US-Truppen auch außerhalb des Flughafens aktiv würden, um Menschen zum Flughafen zu bringen, sagte Kirby: „Sollte es notwendig sein, etwas Zusätzliches zu tun, um Amerikanern oder anderen gefährdeten Personen, die wir zum Flugplatz bringen müssen, zu helfen, prüfen wir diese Optionen.“

Kirby sagte auch, dass sich Anhänger des Terrornetzwerks al-Kaida und der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Afghanistan aufhalten – sie stellen nach Einschätzung des US-Verteidigungsministeriums derzeit aber keine Gefahr für die USA dar. „Es gibt keine Präsenz, die so bedeutend ist, dass sie eine Bedrohung für unser Land darstellt, wie es am 11. September vor 20 Jahren der Fall war“, so der Sprecher.

Biden knüpft weitere humanitäre Hilfe an Bedingungen

Nach der Machtübernahme durch die Taliban wird eine Fortsetzung der humanitären Hilfe für Afghanistan nach Angaben von US-Präsident Biden von zahlreichen Bedingungen abhängig sein. Die Taliban bräuchten die Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft, um das Land finanziell über Wasser zu halten. Künftige US-Hilfen sollen davon abhängen, wie gut die Taliban die Afghanen behandeln, insbesondere die Frauen und Mädchen, wie Biden betonte. Er werde sich gemeinsam mit den Verbündeten und der internationalen Gemeinschaft dafür einsetzen, die Taliban dahingehend unter Druck zu setzen.

Menschen aus Afghanistan bei ihrer Landung in Dubai
Reuters/Spain Ministry Of Defense
Geflüchtete bei der Landung einer Maschine des spanischen Militärs in Dubai

Die Taliban hofften, „eine gewisse Legitimität zu gewinnen“, sagte Biden. „Sie werden einen Weg finden müssen, wie sie das Land zusammenhalten.“ Jegliche Hilfen würden künftig von „scharfen Bedingungen, starken Bedingungen“ abhängen. Die US-Regierung hatte bereits zuvor signalisiert, dass eine begrenzte Unterstützung, die direkt den Menschen in Afghanistan zugute käme, unter bestimmten Bedingungen auch künftig vorstellbar wäre.

Deutscher angeschossen, Berichte über Tötungen

Mittlerweile sind auch einige gewalttätige Zwischenfälle in Afghanistan dokumentiert: Auf dem Weg zum Flughafen erlitt ein deutscher Zivilist eine Schussverletzung. Er sei nicht in Lebensgefahr, hieß es aus Berlin. Zuvor hatte eine Beraterin der afghanischen Mission bei den Vereinten Nationen in den USA auf dem Kurznachrichtendienst Twitter geschrieben, einem Familienmitglied sei am Donnerstag auf dem Flughafen Kabul in den Kopf geschossen worden.

Ein weiterer tödlicher Vorfall wurde am Freitag bekannt: Bei der Verfolgung eines Journalisten der Deutschen Welle (DW) sollen Taliban-Kämpfer einen seiner Familienangehörigen erschossen und einen weiteren schwer verletzt haben. Die Taliban seien auf der Suche nach dem Reporter von Haus zu Haus gegangen. Doch lebt dieser bereits in Deutschland. Die anderen Bewohner des Hauses hätten in letzter Sekunde entkommen können und befänden sich nun auf der Flucht.

NATO warnt Taliban

Die NATO forderte die Taliban auf, die laufenden Evakuierungen aus Afghanistan nicht zu behindern. „Wir erwarten von den Taliban, dass sie allen ausländischen Staatsangehörigen und Afghanen, die das Land verlassen wollen, die sichere Ausreise ermöglichen“, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag nach einer Sondersitzung der Außenminister der NATO-Staaten. Es sei die „höchste Priorität“ des Bündnisses, Menschen in Sicherheit zu bringen.

Russlands Präsident Wladimir Putin mahnte unterdessen an, die Realitäten in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban zu akzeptieren. Schließlich kontrollierten die Taliban den größten Teil des Landes, sagte er nach einem Treffen mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel in Moskau. Er kritisierte zudem, dass es kontraproduktiv sei, den Menschen in Afghanistan eine bestimmte Ordnung überstülpen zu wollen.

Gleichzeitig warnte er die Taliban davor, ihre Macht über Afghanistan hinaus auszuweiten. „Die Taliban dürfen nicht über die Grenzen des Landes hinwegschreiten“, so Putin. Merkel bat Moskau, in Gesprächen mit den Taliban auf die Möglichkeit hinzuwirken, afghanische Ortskräfte in Sicherheit zu bringen.

Sorge vor Racheakten

Unterdessen steigt die Sorge vor gewaltsamen Racheakten der Taliban nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan. Die G-7-Staaten reagierten alarmiert auf entsprechende Berichte und forderten die Islamisten auf, die von ihnen zugesagte Sicherheit von Zivilisten auch wirklich zu gewährleisten. Diese Botschaft ging von einer Telefonkonferenz der Außen- und Entwicklungshilfeminister der G-7-Staaten aus, zu denen die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Kanada und Japan sowie Vertreter der EU gehören.

Amnesty International berichtete unter Berufung auf Augenzeugen von „brutalen Tötungen“ durch die Taliban in der Provinz Ghazni im Juli. In dem Dorf Mundarakht im Bezirk Malistan seien sechs Männer der schiitischen Minderheit der Hazara erschossen und drei zu Tode gefoltert worden, wie die Menschenrechtsorganisation in einer Aussendung am Freitag mitteilte. Dabei sei ein Mann mit seinem eigenen Schal erwürgt und seine Armmuskeln abgetrennt worden.

Der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) liegen nach eigenen Angaben Berichte über „standrechtliche Hinrichtungen“ durch die Taliban vor. Bei den mutmaßlichen Opfern handle es sich um frühere afghanische Regierungsmitarbeiter und Sicherheitskräfte, sagte die Vizedirektorin für HRW in Asien, Patricia Gossman, am Freitag. Das Ausmaß sei noch unklar. Viele dieser Vorfälle fänden den Erkenntnissen zufolge außerhalb der Hauptstadt Kabul in den afghanischen Provinzen statt.