Menschen, die flüchten wollen, und US-Soldaten am Flughafen Kabul
Reuters/Us Marines
Verzweiflung in Kabul

Tausende hoffen weiter auf Luftbrücke

Fast eine Woche ist es her, dass die afghanische Hauptstadt Kabul in die Hände der radikalislamischen Taliban fiel. Inzwischen wurden Zehntausende Menschen außer Landes gebracht. Viele Tausende mehr warten aber immer noch auf dem und um den Flughafen auf eine Möglichkeit, den Krisenstaat zu verlassen. Die Taliban kündigten unterdessen erneut an, bald Pläne für die Zukunft Afghanistans zu präsentieren.

Trotz der völlig unklaren Lage hofften auch zu Beginn des Wochenendes Tausende Menschen, einen Platz in einem der Evakuierungsflüge zu bekommen. Ein Augenzeuge berichtete der dpa, er habe bereits den gesamten Freitag an einem der Eingänge zu dem Flughafen verbracht. Als er Samstagfrüh dorthin zurückkehrte, habe sich die Menschenmenge noch einmal verdoppelt. Es fielen weiter praktisch durchgehend Schüsse. Am nördlichen Eingang habe es zudem Lautsprecherdurchsagen gegeben, dass das Gate nun zwei Tage geschlossen sei, sagte die Person.

Ein zweiter Augenzeuge sagte der dpa, Menschen aus allen Gesellschaftsschichten befänden sich dort. Er habe Schauspieler in der Menge gesehen, bekannte Fernsehpersönlichkeiten, Jugendliche, Frauen mit neugeborenen Babys oder Menschen im Rollstuhl.

Am Freitag sorgte das Video eines Babys für Bestürzung, das über eine Mauer mit Stacheldraht hinweg an US-Soldaten übergeben wurde. Es soll laut Pentagon-Sprecher Jon Kirby inzwischen aber wieder bei seinem Vater sein. „Der Elternteil hat die Marineinfanteristen gebeten, sich um das Baby zu kümmern, weil das Baby krank war“, sagte Kirby. Der US-Soldat habe das Kleinkind deswegen über die Mauer gezogen und zu einem norwegischen Krankenhaus auf dem Flughafengelände gebracht. Wo sich das Baby und sein Vater inzwischen befinden, konnte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums aber nicht sagen.

Das Bild eines anderen Kindes im Arm eines norwegischen Soldaten an Bord eines Evakuierungsflugs sorgte in den sozialen Netzwerken ebenso für Erschütterung. Das Foto, das eine Korrespondentin des US-Senders CBS News am Samstag auf Twitter teilte, zeigte den Säugling auf dem Schoß eines Soldaten in voller Uniform. Ein Sprecher des norwegischen Militärs bestätigte dem Sender NRK die Echtheit des tausendfach geteilten Fotos. Die CBS-Journalistin schrieb auf Twitter ebenfalls von „einer großen Zahl an Kindern, von Babys bis hin zu Teenagern", die alleine reisten“.

Lage „verheerend und schwierig“

Im Durcheinander rund um den Flughafen wurden seit Sonntag mindestens zwölf Menschen getötet. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg beschrieb die Lage an Ort und Stelle als „sehr verheerend und schwierig“. In einem Schreiben der deutschen Botschaft in Kabul mit Informationen zu den Evakuierungsflügen hieß es in der Nacht auf Samstag, die Lage auf dem Flughafen sei weiterhin äußerst unübersichtlich.

Chaos und Verzweiflung rund um Flughafen Kabul

Weiterhin fliegen westliche Staaten Menschen aus Afghanistan aus. US-Präsident Joe Biden sicherte in einer Ansprache die Rettung aller Amerikaner aus Afghanistan zu. Doch er spricht auch von einer der „größten und schwierigsten Luftbrücken der Geschichte“.

Es komme immer häufiger zu gefährlichen Situationen und bewaffneten Auseinandersetzungen an den Gates. Der Zugang zum Flughafen sei nicht durchgehend gewährleistet, und es sei wegen der unklaren Situation nicht möglich, vorab Informationen zu geben, wann die Tore geöffnet sein würden. Über Öffnung und Schließung entscheide das US-Militär je nach Lage. Dieses öffnete die Tore am Sonntag etwa wieder nach mehrstündiger Schließung.

Die US-Botschaft warnte am Samstag aber davor, zum Flughafen von Kabul zu kommen. „Aufgrund potenzieller Sicherheitsbedrohungen vor den Toren des Flughafens Kabul raten wir US-Bürgern, derzeit nicht zum Flughafen zu reisen und die Tore des Flughafens zu meiden“, hieß es auf der Website der Botschaft in Kabul.

Rettungsflüge mit Hubschraubern

Samstagfrüh waren zwei Hubschrauber der deutschen Bundeswehr in Kabul angekommen. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums geht es dabei um eine „Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten“. Die Maschinen könnten für die Rettung einzelner Deutscher oder auch Ortskräfte aus Gefahrenlagen eingesetzt werden. Auch das US-Militär setzte laut Medienberichten Hubschrauber zur Rettung von US-Bürgern ein. So sollen 169 Menschen mit Helikoptern aus einem Hotel in unmittelbarer Nähe zum Flughafen gebracht worden sein.

Allerdings wurden zwischenzeitlich die Evakuierungsflüge aus Kabul gestoppt. Grund dafür war nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums, dass es in Katar keine Kapazität mehr gegeben habe, die Ankunft und Weiterreise weiterer Reisender abzuwickeln. Deshalb versuchen die USA weitere Länder dafür zu gewinnen, aus Afghanistan ausgeflogene Menschen vorübergehend aufzunehmen und eine sichere Durchreise zu organisieren.

Appell zur Aufnahme Geflüchteter

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hielt am Samstag fest, dass die EU die Taliban nicht anerkannt habe und auch keine politischen Gespräche mit ihnen führe. Die von der Kommission vorgesehene humanitäre Hilfe für Afghanistan in Höhe von 57 Millionen Euro solle zwar aufgestockt werden, sei aber an die Einhaltung von Menschenrechten und der Rechte von Minderheiten und Frauen gebunden, sagte von der Leyen beim Besuch einer Aufnahmeeinrichtung für afghanische Flüchtlinge in Madrid. Zudem rief sie alle Mitgliedsländer zur Aufnahme schutzbedürftiger Afghaninnen und Afghanen auf. Die EU-Kommission werde finanzielle Unterstützung für die Länder zur Verfügung stellen, die den Flüchtenden eine neue Heimat böten.

Taliban-Gegner sprechen von eigenen Eroberungen

Im Norden Afghanistans haben Taliban-Gegner nach eigenen Angaben das von ihnen kontrollierte Gebiet ausgedehnt. Verteidigungsminister Bismillah Mohammadi, der sich mit Teilen der Regierungstruppen in das Pandschir-Tal zurückgezogen hat, twitterte, drei nahe gelegene Bezirke seien von den auf seiner Seite stehenden Kräften eingenommen worden.

Die Taliban selbst versuchten am Samstag weiterhin, sich möglichst staatstragend zu geben. Binnen Wochen solle ein Rahmenplan vorliegen, wie das Land künftig geführt werden soll, sagte ein Vertreter der radikalislamischen Gruppierung am Samstag. Zugleich betonte er, die Taliban würden die Verantwortung für etwaige Vergeltungsakte und Gräueltaten übernehmen, falls diese von eigenen Kämpfern verübt worden seien.

Taliban versprechen Untersuchung

Afghanische Bürgerinnen und Bürger sowie internationale Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen hatten zuletzt von harten Vergeltungsakten gegen Anti-Taliban-Proteste berichtet. Außerdem soll es Versuche geben, Menschen dingfest zu machen, die Regierungsposten bekleidet, die Taliban kritisiert oder für die Amerikaner gearbeitet haben. So fürchten ganze Familien um ihr Leben und verstecken sich vor Bewaffneten, die von Haus zu Haus unterwegs sind.

Der Taliban-Vertreter sagte dazu: „Wir haben von einigen Fällen von Gräueltaten und Verbrechen an Zivilisten gehört.“ Sollten Taliban-Angehörige dafür verantwortlich sein, werde das untersucht. „Wir können die Panik, den Stress und die Angst verstehen. Die Leute denken, wir werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Aber das wird nicht der Fall sein.“

Anführer Baradar in Kabul eingetroffen

Laut Angaben der Islamisten traf inzwischen auch der Taliban-Mitbegründer Mullah Abdul Ghani Baradar in Kabul ein. Baradar werde „mit Dschihadistenführern und Politikern zusammentreffen, um eine inklusive Regierung zu bilden“, sagte ein hochrangiger Taliban-Beamter am Samstag. Das Führungsmitglied der Taliban war am Dienstag nach Afghanistan zurückgekehrt. Baradar wird als möglicher neuer Regierungschef gehandelt, die Taliban selbst haben jedoch noch keine genaueren Angaben zur geplanten Regierung gemacht.

Der Taliban-Mitbegründer war im Jahr 2010 in Pakistan inhaftiert worden, bis er 2018 auf Druck der USA freigelassen und nach Katar überführt wurde. Baradar hatte zuletzt das politische Büro der Taliban in Katar geleitet. Er verantwortete unter anderem die Unterzeichnung eines Abkommens mit der Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump im Februar 2020, das den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan regelte.