Menschen warten an der afghanisch-pakistanischen Grenze
Reuters/Saeed Ali Achakzai
Flucht aus Afghanistan

„2015 wird sich nicht wiederholen“

Der Migrationsexperte Gerald Knaus warnt vor der europaweit geschürten Angst vor einer möglichen Flüchtlingswelle aus Afghanistan. „2015 wird sich nicht wiederholen“, sagte Knaus, Leiter der in Berlin ansässigen European Stability Initiative (ESI), am Samstag im Ö1-Mittagsjournal. Die Situation sei nicht mit jener vor sechs Jahren zu vergleichen. Scharfe Kritik übte er insbesondere an der österreichischen Linie.

Ob Innenminister Karl Nehammer (ÖVP), SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner oder auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel – in Europa wurde dieser Tage mehrfach wiederholt, dass sich die durch den Bürgerkrieg in Syrien entfachte Flüchtlingskrise 2015 nicht wiederholen dürfe. Der Migrationsexperte Knaus zeigte für jene Äußerungen Unverständnis.

Er betonte, dass die heutige Situation mit jener von 2015 nicht vergleichbar sei. Damals hätten Millionen von Menschen problemlos aus Syrien über die offene Grenze in die Türkei fliehen können, wo auch die allermeisten geblieben seien. Lediglich ein Teil habe sich via Ägäis eben auf den Weg nach Europa gemacht.

„Heute ist die Situation radikal anders“

„Heute ist die Situation radikal anders“, so Knaus. „Die Menschen kommen aus Afghanistan – wie wir ja sehen auf den dramatischen Bildern aus Kabul sehen – nicht raus.“ Die radikalislamischen Taliban kontrollierten Land und Grenzen, und auch die Nachbarländer und die Türkei hätten angekündigt, ihre entsprechenden Grenzen zu schließen, so der Migrationsexperte.

Die Warnungen seien zudem „gefährlich, weil es einen Kontrollverlust und eine Angst schürt, die nicht gerechtfertigt ist. Die wirkliche Frage ist, wie kriegen wir Leute, die wir aufnehmen wollen, eigentlich heraus?“, sagte Knaus weiter. „Die entscheidende Frage an den Grenzen ist nicht, wie viele Leute müssen fliehen, sondern, was ist die Politik der Staaten an den Grenzen? Das ist das grundlegende Missverständnis in der Debatte“, sagte Knaus auf den von österreichischen Politikern immer wieder bemühten, angeblichen „Pull-Faktor“.

Die „Realität“ in vielen Staaten weltweit sei nämlich, dass kaum noch Flüchtlinge Grenzen überqueren können, weil sie mit Gewalt daran gehindert werden – auch in der EU werde das so gehandhabt, so der Experte. Knaus verweist etwa auf die Praxis von Staaten wie Kroatien, Ungarn und Griechenland, wo Menschen an militarisierten Grenzen ohne Verfahren zurückgestoßen würden. Zugleich herrsche nach wie vor die „vollkommen irrationale Sorge, Menschen zu gut zu behandeln“, obwohl es kaum noch Menschen gebe, denen die Flucht gelinge.

Ein US-Marine versorgt ein Kind mit Wasser
Reuters/US Marines
Auf dem Flughafen in Kabul warten immer noch unzählige Menschen darauf, ausreisen zu können

Österreich mit „Politik der AfD“

Klare Worte fand Knaus auch hinsichtlich der Forderung nach legalen Fluchtrouten durch EU-Innenkommissarin Ylva Johansson und der darauffolgenden Kritik Nehammers. „Die Aussage der EU-Innenkommissarin zu legalen Fluchtrouten ist das völlig falsche Signal. Ich bin davon ausgegangen, dass die EU-Kommission aus 2015 gelernt hat und solche Fehler nicht mehr machen möchte“, sagte der österreichische Innenminister.

„Ich finde es schade, dass die Politik der österreichischen Regierung die Politik der AfD ist – kein Signal, niemanden nehmen“, hält Knaus mit Verweis auf Deutschland, wo sich mit Ausnahme der AfD alle Parteien dafür ausgesprochen hatten, besonders von den Taliban gefährdete Personen wie afghanische Frauenrechtlerinnen oder Journalistinnen aufzunehmen. „Dieses Bild des Signals ist in diesem Kontext vollkommen irreführend“, so Knaus weiter. Würden 800 besonders gefährdete Menschen aufgenommen, so wäre das kein Signal, dass sich Zehn- oder Hunderttausende auf den Weg machen sollen.

„Sinnlos, sich hier als Hardliner aufzuspielen“

Mit der aktuellen Linie, dass man niemanden aufnehmen wolle, würde Österreich vielmehr ein „Signal“ an die Nachbarländer Afghanistans senden, ihre Grenzen zu schließen. „Das ist dann das Ende des Flüchtlingsschutzes. Dann gibt es keine Flüchtlingskonvention mehr, wenn alle so handeln würden, wie das die österreichische Regierung jetzt präsentiert“, kritisierte Knaus. Er halte es für „vollkommen sinnlos, sich hier als Hardliner aufzuspielen“.

Es empfehle sich für ein Land mit jener Haltung jetzt, sich zurückzuhalten, sagte Knaus angesprochen auf die von Österreich geplante Videokonferenz mit Afghanistans Nachbarländern: „Wir sollten es lassen.“ Vielmehr brauche es EU-Staaten, die den Nachbarstaaten vermitteln, dass sie die Grenzen öffnen sollen und dass ihnen bei der Bewältigung der Situation auch geholfen würde.

Abschiebezentren für Knaus „absurd“

Die ebenfalls von Nehammer geforderten Abschiebezentren in den Nachbarländern Afghanistans hält der Migrationsexperte für „absurd“. „Ich kenne kein anderes Land, das darüber nachdenkt, jetzt diplomatisch Kapital der EU dazu einzusetzen, Nachbarländer davon zu überzeugen, aus der EU Afghanen zurückzunehmen, anstatt die Nachbarländer davon zu überzeugen, Afghanen ins Land zu nehmen, die Schutz brauchen.“ Genau darauf komme es aber jetzt an.

Experte hält Warnungen für überzogen

Ähnliche Aussagen machten in den vergangenen Tagen unter anderen der österreichische Sicherheitsexperte und Ex-Bundesheerbrigadier Walter Feichtinger sowie der deutsche Migrationsforscher Steffen Angenendt. Feichtinger glaubt nicht an eine Flüchtlingswelle Richtung Europa. Zunächst würden die Menschen, die das Land verlassen wollen, eher in die Nachbarstaaten fliehen. Erst nach rund fünf Jahren stelle sich erfahrungsgemäß die Frage: „Kann ich zurück in mein Land, kann ich hierbleiben oder will ich noch weiter weggehen?“, sagte Feichtinger am Sonntagabend in der ORF-Sendung „Runder Tisch“. Das normale Verhalten sei vielmehr, „so weit auszuweichen, wie es das eigene Leben erfordert“.

Auch Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik hält Warnungen vor Flüchtlingszahlen wie 2015 und 2016 für überzogen, wie er der dpa gesagt hatte. Es sei unlauter, wenn Politiker mit Warnungen vor einer Wiederholung des Jahres 2015 Ängste schürten. In den beiden Jahren kamen mehr als 1,1 Millionen Asylsuchende nach Deutschland, viele von ihnen Syrer. Ihr Weg sei deutlich kürzer und damit weniger kostenintensiv gewesen, als jetzt der Weg der Afghanen wäre, hatte Angenendt erklärt.

Von der Leyen appelliert an EU-Mitgliedsländer

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte am Samstag alle Mitgliedsländer zur Aufnahme schutzbedürftiger Afghanen auf. Die EU-Kommission werde finanzielle Unterstützung für die Länder zur Verfügung stellen, die den Flüchtenden eine neue Heimat böten, sagte sie beim Besuch eines Erstaufnahmelager für vor den Taliban geflohene afghanische Ortskräfte der EU in Spanien. Zusammen mit EU-Ratspräsident Charles Michel und dem spanischen Regierungschef Pedro Sanchez besuchte sie die Militärbasis Torrejon de Ardoz nahe Madrid. Auf dem Stützpunkt hat die spanische Luftwaffe ein Lager eingerichtet, das laut Sanchez bis zu 800 Menschen aufnehmen kann.

Nach Angaben der Regierung in Madrid soll es als „logistisches Zentrum Europas“ dienen, von dem aus „alle Afghanen, die für EU-Institutionen gearbeitet haben“, in andere Staaten verteilt werden sollen. Laut dem spanischen Außenminister Jose Manuel Albares haben sich „fast alle EU-Staaten“ bereiterklärt, Flüchtlinge aus dem Lager aufzunehmen. Die Afghanen sollen zunächst eine „befristete Einreiseerlaubnis“ für Spanien erhalten, bevor ihnen von den verschiedenen Ländern, in denen sie sich niederlassen sollen, der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird.

Athen baut neue Grenzzäune

Griechenland und die Türkei forderten die internationale Gemeinschaft indes auf, Afghanistans unmittelbare Nachbarstaaten angesichts eines möglichen großen Flüchtlingszustroms zu unterstützen. Auf diese Forderung verständigten sich der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Freitag bei einem Telefonat, wie das Büro des griechischen Regierungschefs mitteilte. Die afghanischen Flüchtlinge sollten damit so nahe wie möglich an ihrer Heimat bleiben können.

Griechenland baute mittlerweile an seichten Stellen entlang des an die Türkei grenzenden Flusses Evros neue Zäune auf und versetzte seinen Grenzschutz auf dem Festland und den Inseln in Alarmbereitschaft, wie das Staatsfernsehen (ERT) berichtete. Bisher sei jedoch kein Zustrom von Migranten aus Afghanistan registriert worden.