Militär und Zivilisten am FLughafen von Kabul
APA/AFP/US Marine Corps/Davis Harris
Afghanistan

Zeit für Evakuierungen drängt

Wie lange der Flughafen von Kabul – die letzte Möglichkeit für Tausende Menschen, aus Afghanistan zu flüchten, noch offen bleibt, ist unklar. Die Evakuierungen stocken, die Lage ist weiterhin unübersichtlich. Die Rettung aller Ortskräfte ist in den Augen der EU bis Ende des Monats „unmöglich“.

Zehntausende Menschen konnten inzwischen durch die Hilfe von US- und NATO-Kräften ausgeflogen werden, doch viele Tausende harren weiterhin auf dem Kabuler Flughafen und davor aus. Sie hoffen, der neuen Taliban-Herrschaft noch entkommen zu können, nachdem die militanten Islamisten vor einer Woche die afghanische Hauptstadt eingenommen hatten.

Die Lage auf dem Flughafen war zuletzt immer wieder chaotisch. Es gab Berichte über Schüsse und Todesopfer. Aufnahmen des britischen Fernsehsenders Sky News zeigten am Samstag, wie Soldaten mindestens drei Leichen mit einer weißen Plane abdeckten. Woran die Menschen starben, war zunächst unklar. Ein Reporter auf dem Flughafen berichtete, im Gedränge seien mehrere Menschen „gequetscht“ worden. Augenzeugen berichteten Sonntagfrüh auch, die Taliban hätten eine Art Ordnung rund um den Flughafen von Kabul hergestellt.

CNN: Gefahr eines IS-Anschlags besteht

Der Zugang zum Flughafen ist nicht durchgehend gewährleistet, die US-Streitkräfte schlossen die Tore zuletzt vorübergehend. Die US-Botschaft warnte am Samstag auch davor, zum Flughafen zu kommen. „Aufgrund potenzieller Sicherheitsbedrohungen vor den Toren des Flughafens Kabul raten wir US-Bürgern, derzeit nicht zum Flughafen zu reisen und die Tore des Flughafens zu meiden“, hieß es auf der Website der Botschaft in Kabul. Auch die deutsche Botschaft warnte davor, den Flughafen aufzusuchen. Derzeit sei es sicherer, zu Hause oder an einem geschützten Ort zu bleiben.

Taliban bereiten Machtübernahme vor

Die Führung der Taliban bereitet offenbar die offizielle Machtübernahme in Afghanistan vor. Trotz ihrer Beteuerungen eines zivilisierten Regierungswechsels verschlechtert sich die Versorgungslage für immer mehr Afghanen dramatisch.

Der Sender CNN berichtete am Samstag unter Berufung auf ungenannte US-Verteidigungsquellen von der Gefahr eines Anschlags der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) auf den Kabuler Flughafen und dessen Umgebung. Das US-Militär bemühe sich daher, Amerikanern, anderen Ausländern und afghanischen Mitarbeitern der US-Regierung „alternative Routen“ zum Flughafen aufzuzeigen. Die Taliban seien sich der Bemühungen bewusst und stimmten sich mit den US-Vertretern ab. Die Taliban und der regional aktive Zweig des IS sind tief verfeindet und haben in der Vergangenheit gegeneinander gekämpft.

EU beschwert sich bei USA

Die Evakuierungsflüge aus Kabul wurden auch zwischenzeitlich gestoppt. Grund dafür war nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums, dass es in Katar keine Kapazität mehr gegeben habe, die Ankunft und Weiterreise weiterer Reisender abzuwickeln. Deshalb versuchen die USA, weitere Länder dafür zu gewinnen, aus Afghanistan ausgeflogene Menschen vorübergehend aufzunehmen und eine sichere Durchreise zu organisieren. Die USA und Deutschland schickten auch Hubschrauber zur Rettung von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern sowie Ortskräften.

Das Zeitfenster zur Evakuierung schließt sich aber zusehends. Die USA wollen eigentlich zum 31. August den Abzug ihrer Truppen abschließen. Eine Fortführung des Evakuierungseinsatzes ohne die USA gilt als ausgeschlossen. Darüber kam auch Ärger in der EU auf. Der Außenbeauftragte Josep Borrell hielt es am Samstag nicht für möglich, bis Ende August alle Ortskräfte der USA und anderer NATO-Staaten auszufliegen. „Das ist mathematisch unmöglich“, sagte Borrell der Nachrichtenagentur AFP.

Borrell machte die strengen Sicherheitsvorkehrungen des US-Militärs mitverantwortlich für die dramatische Situation. Er sagte, die EU habe sich bei den USA über die strengen Sicherheitsvorkehrungen „beschwert“. Afghanische Ortskräfte der EU, die das Land verlassen wollen, hätten Schwierigkeiten, auf das Flughafengelände zu gelangen. Borrell schloss sich den Forderungen mehrerer NATO-Staaten an, den Evakuierungseinsatz über Ende August hinaus zu verlängern. „Wenn die Amerikaner am 31. August abziehen, haben die Europäer nicht die militärische Kapazität, den Militärflughafen zu besetzen und zu sichern, und die Taliban werden die Kontrolle übernehmen“, warnte Borrell.

Kinder allein unterwegs

US-Generalmajor William Taylor sagte am Samstag im Pentagon, Eingangstore seien in den vergangenen 24 Stunden nur kurzfristig geschlossen worden, damit „die richtigen Leute“ hätten passieren können. Die US-Streitkräfte hätten in den vorangegangenen 24 Stunden insgesamt rund 3.800 Menschen evakuiert. Seit Beginn der Evakuierungsmission in Afghanistan vor einer Woche hätten die US-Militärs insgesamt 17.000 Menschen aus Kabul ausgeflogen.

Laut dem US-Sender CNN befanden sich am Samstag noch rund 14.000 Menschen auf dem Flughafen, die auf Rettung warteten. Seit der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban fürchten Oppositionelle, Journalistinnen und Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und auch Ortskräfte, die für westliche Staaten tätig waren, Racheaktionen.

Am Freitag sorgte das Video eines Babys für Bestürzung, das über eine Mauer mit Stacheldraht hinweg an US-Soldaten übergeben wurde. Es soll laut Pentagon-Sprecher Jon Kirby inzwischen aber wieder bei seinem Vater sein. Das Bild eines anderen Kindes im Arm eines norwegischen Soldaten an Bord eines Evakuierungsflugs löste in den sozialen Netzwerken ebenso Bestürzung aus.

Das Foto, das eine Korrespondentin des US-Senders CBS News am Samstag auf Twitter teilte, zeigte den Säugling auf dem Schoß eines Soldaten in voller Uniform. Ein Sprecher des norwegischen Militärs bestätigte dem Sender NRK die Echtheit des tausendfach geteilten Fotos. Die CBS-Journalistin schrieb auf Twitter ebenfalls von „einer großen Zahl an Kindern, von Babys bis hin zu Teenagern, die alleine reisten“.

Aufruf zur Aufnahme in EU

Inzwischen gehen die internationalen Bemühungen, die Lage zu beruhigen, weiter. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bestätigte, dass mit den Taliban gesprochen werde, um die Evakuierungen zu erleichtern. Die Verhandlungen bedeuteten aber keineswegs eine Anerkennung der neuen Regierung, so von der Leyen bei einem Besuch eines Erstaufnahmezentrums ins Spanien. Sie stellte zudem eine Erhöhung der humanitären Hilfe der Europäischen Union in Aussicht.

EU nimmt afghanische Ortskräfte auf

In Madrid wurde jetzt ein Erstaufnahmezentrum für jene Afghanen eingerichtet, die aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit dem Westen vor den Taliban geflohen sind. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat dieses Zentrum am Samstag besucht.

Es werde allerdings keine Mittel für die Taliban geben, wenn diese nicht die Menschenrechte respektieren sollten, sagte von der Leyen bezüglich der Entwicklungsgelder in Höhe von einer Milliarde Euro, die für Afghanistan für die nächsten sieben Jahren vorgesehen sind. Von der Leyen rief auch alle EU-Mitgliedsstaaten dazu auf, Geflüchtete aus Afghanistan aufzunehmen. Die EU-Kommission werde finanzielle Unterstützung für die Länder zur Verfügung stellen, die den Flüchtenden eine neue Heimat böten.

Moskau und Ankara in Abstimmung

Russland und die Türkei kündigten an, sich wegen der Lage in Afghanistan enger miteinander abzustimmen. „Die Präsidenten haben eine Verstärkung der bilateralen Koordination bei der afghanischen Thematik vereinbart“, teilte der Kreml am Samstag in Moskau nach einem Telefonat von Staatschef Wladimir Putin mit seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan mit. Beide Seiten hätten die Bedeutung von Stabilität und gesellschaftlichem Frieden in dem Land hervorgehoben.

Am Samstag telefonierte auch Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Erdogan. Man war sich einig, „dass die Evakuierung schutzbedürftiger Menschen aus Afghanistan weiterhin höchste Priorität hat“. Nach Angaben der türkischen Regierung wies Erdogan in dem Telefonat aber auch darauf hin, dass die Türkei im Falle einer verstärkten Fluchtbewegung aus Afghanistan diese „zusätzliche Belastung“ nicht tragen könne.

Die USA wollen die Taliban unter Druck setzen und Hilfen für Afghanistan während ihrer Herrschaft an „harte Bedingungen“ knüpfen. So werde man genau verfolgen, wie die Islamisten ihre Landsleute und dabei speziell Frauen und Mädchen behandeln, sagte Biden in einer Ansprache am Freitag (Ortszeit). Biden zufolge stünden die USA in Kontakt mit den Taliban, um den Zugang zum Flughafen in Kabul zu gewährleisten. Sollten die Islamisten die Evakuierungsaktionen stören oder US-Truppen angreifen, werde es eine „starke Reaktion“ geben.

Vorbereitungen für Regierungsbildung

Die Taliban machten inzwischen einem ihrer Repräsentanten zufolge Fortschritte bei der Bildung einer Regierung und einer Verbesserung der Sicherheitslage im Land. Mit früheren Verwaltungsmitarbeitern liefen Gespräche über die finanzielle Krise und eine Wiedereröffnung der Banken, hieß es gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.

Militär und Zivilisten am FLughafen von Kabul
APA/AFP/Karim Jafar
Mullah Abdul Ghani Baradar soll am Samstag nach Kabul gereist sein (Bild von 2020)

Seit Samstag soll zudem der Vizechef der Taliban in Kabul sein, sagten Taliban-Kreise der dpa. Mullah Abdul Ghani Baradar wäre der bisher höchstrangige Taliban-Führer, der in Kabul eingetroffen ist. Bilder von ihm in der Stadt gab es allerdings nicht. Wo sich Taliban-Führer Hibatullah Akhundzada und seine zwei weiteren Stellvertreter befinden, war unbekannt.

Im Norden Afghanistans dehnten am Samstag die Gegner der Taliban nach eigenen Angaben das von ihnen kontrollierte Gebiet aus. Verteidigungsminister Bismillah Mohammadi, der sich mit Teilen der Regierungstruppen in das Pandschir-Tal zurückgezogen hat, twitterte, drei nahe gelegene Bezirke seien von den auf seiner Seite stehenden Kräften eingenommen worden.