Krankenschwester auf Intensivstation in einem Krankenhaus in Deutschland
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Deutschland

Spitalsbelegung statt Inzidenz entscheidend

In Deutschland haben bisher bestimmte Inzidenzwerte über Einschränkungen des öffentlichen Lebens bestimmt. Das soll künftig nicht mehr der Fall sein: Die deutsche Regierung will diese Grenzwerte wieder aus dem Gesetz streichen – stattdessen will man nun unter anderem auf die Hospitalisierung achten.

Künftig sollen voraussichtlich keine Einschränkungen wegen des Coronavirus ab einer Inzidenz von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen mehr greifen. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Fachministerinnen und -minister tagten am Montag erstmals seit der Sommerpause wieder, und man sei sich einig, dass Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zügig einen entsprechenden Vorschlag machen und das Bundeskabinett diesen dann beschließen solle, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin mit.

Zuvor hatten bereits die Nachrichtenagentur Reuters und die „Bild“ darüber berichtet, dass die Verankerung der Inzidenzwerte im Gesetz abgeschafft werden solle. Man habe sich darauf verständigt, dass künftig neuer wesentlicher Indikator für die Belastung des Gesundheitssystems sein soll, wie hoch die Hospitalisierung sei, hieß es. Damit ändert die Regierung ihre CoV-Politik der letzten Monate grundlegend.

Wohl keine Einschränkungen mehr für Geimpfte

Menschen, die gegen das Virus geimpft oder die genesen sind, müssen nach dem jetzigen Stand keine gravierenden Einschränkungen mehr fürchten. „Man kann den Geimpften sagen, dass sich für sie, auch wenn jetzt die Zahlen weiter ansteigen, nichts ändern wird, und das gilt auch für die Genesenen: Sie müssen jetzt nicht mit neuen Einschränkungen rechnen“, sagte Seibert. Noch könne allerdings nicht vorhergesehen werden, ob eine neue Virusvariante auftauche, bei der die bisherigen Impfstoffe nicht wirkten.

Jugendliche in Deutschland sehen ein Video vor der Corona-Schutzimpfung
APA/AFP/Thomas Kienzle
Für Geimpfte wird es künftig wohl keine neuen Einschränkungen geben

Derzeit schreibt das Infektionsschutzgesetz vor, dass bei Überschreitung eines Schwellenwerts von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind. Ab einem Wert von 100 greifen bundeseinheitliche Regeln.

Künftig sollen sich mögliche Einschränkungen maßgeblich auch an der Zahl der im Krankenhaus behandelten Fälle ausrichten. Derzeit sind es 1,28 solcher Fälle pro 100.000 Einwohner und sieben Tagen. Details der geplanten Neuregelung nannte ein Sprecher des Gesundheitsressorts auf Nachfrage noch nicht.

Inzidenz im Gesetz „hat ausgedient“

Schon am Vormittag sprach sich Spahn für eine Abschaffung des Grenzwerts aus. Im ZDF-„Morgenmagazin“ sagte er: „Die 50er-Inzidenz im Gesetz, die hat ausgedient.“ Der Wert habe für eine ungeimpfte Bevölkerung gegolten.

Einige Bundesländer sind von der Fokussierung auf die Inzidenz bereits abgerückt. „Deswegen ist mein Vorschlag, jetzt auch diesen Maßstab, diese 50er-Inzidenz, aus dem Gesetz zügig zu streichen“, sagte der Minister. Darüber könnte der Bundestag noch vor der Wahl am 26. September entscheiden. „Der neue Parameter ist dann die Hospitalisierung“, so Spahn.

Eine Frau wird in Berlin auf Coronaviren getestet
APA/AFP/Stefanie Loos
Weniger als reine Testergebnisse wird künftig auch die Hospitalisierung eine wesentliche Rolle spielen

Der Koalitionspartner SPD signalisierte Zustimmung zur geplanten Änderung des Infektionsschutzgesetzes. „Wir brauchen diese Inzidenzzahl nicht“, sagte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) in Bild TV mit Blick auf den 50er-Inzidenzwert. „Sie ist in einer Zeit entstanden, als wir noch ganz andere Zahlen hatten, als wir noch nicht ausreichend Impfstoff hatten.“

Sprecher: „Pandemie der Ungeimpften“

Die zuständigen Ministerien seien sich im deutschen „Corona-Kabinett“ einig gewesen, dass das Gesetz wegen „neuer Bedingungen“ geändert werden müsse, sagte Seibert. Diese neuen Bedingungen seien dadurch gegeben, dass die Impfkampagne fortgeschritten sei und es inzwischen genug Impfstoff gebe. Seibert erneuerte seinen Appell an die Bürgerinnen und Bürger, sich impfen zu lassen. Derzeit handle es sich bei 90 Prozent der Patienten, die wegen einer Covid-19-Infektion im Krankenhaus liegen, um Ungeimpfte, sagte er. „Mehr und mehr handelt es sich um eine Pandemie der Ungeimpften.“

Deutschland befindet sich nach Einschätzung des Robert Koch-Instituts inzwischen am Beginn der vierten CoV-Welle. Auch jüngere Altersgruppen sind diesmal stark betroffen. Deutschland verzeichnet momentan eine 7-Tage-Inzidenz von 56,4.

Debatte auch in Österreich?

In Österreich wurde zuletzt im Juni breiter über die Aussagekraft der 7-Tage-Inzidenz diskutiert. Die CoV-Kommission hierzulande achtet auf mehrere Faktoren – neben der Spitalsbelegung etwa auch darauf, in wie vielen Fällen durch Contact-Tracing die Ansteckungsquelle ermittelt werden kann.

Im Hinblick auf die Impfquote hatte zuletzt Gerald Gartlehner, Epidemiologe und Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation an der Donau-Universität Krems, für eine Änderung plädiert. In der „Presse“ schlug er vor, zwei 7-Tage-Inzidenzen anzugeben: eine für Geimpfte und eine für Nichtgeimpfte, „auch, um zu zeigen, wie unterschiedlich sich die Infektionszahlen in den beiden Gruppen verhalten und wie hoch der Schutz ist, den die Impfung bietet“. Katharina Reich, Chief Medical Officer, sagte damals, dass das jedoch zu kompliziert wäre: „Die oberste Maxime muss sein, dass wir einfach bleiben.“

Am Montag verwies auch das heimische Gesundheitsministerium darauf, dass die reine 7-Tage-Inzidenz in den letzten Monaten eine geringere Rolle gespielt habe. Als wichtiger Parameter, um bereits möglichst früh Entwicklungen bei den Infektionen erkennen zu können, werde der Wert in Österreich aber weiterhin dienen, so das Ministerium. Tirols Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) begrüßte unterdessen die Entscheidung Deutschlands. Er habe schon länger dafür plädiert, sich nicht an der 7-Tage-Inzidenz zu orientieren. Vor allem für das Tourismusland Tirol und die Menschen in Tirol und Bayern, die an der Grenze leben, sei das eine gute Nachricht.