Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) und Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP)
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„Abtauschgeschäfte“

Politologe vermisst bei Grünen rote Linie

Von Klima über Justiz bis Migration – in regelmäßigen Abständen treten die großen Differenzen zwischen den Regierungsparteien zutage. So auch derzeit mit der Debatte über die Aufnahme von Geflüchteten aus Afghanistan. Der Politologe Peter Filzmaier spricht gegenüber ORF.at von „Abtauschgeschäften“ – zwar würden auch die Grünen davon profitieren, dennoch müssten sie sich der Frage nach der roten Linie stellen. Nicht zuletzt im Hinblick auf wackelnde Vertrauenswerte.

Am Wochenende verkündete die ehemalige Wiener Parteichefin und Vizebürgermeisterin Birgit Hebein ihren Austritt aus der Partei – ihr fehle die klare Haltung und der Einsatz für Menschenrechte. „Die grüne Politik mit all den Argumenten und Nichthaltungen erreichen nicht mehr mein Herz“, schrieb sie am Sonntag auf Facebook. Hebein war Mitverhandlerin der Koalition auf Bundesebene.

„Die Grünen haben sich angepasst auf die Kunst des Machbaren, das ist wohl unbestritten“, analysiert Filzmaier. Bereits beim Unterschreiben des Koalitionspakts sei der Preis für einen Regierungseintritt jener gewesen, zu wissen, dass die Partei keine Mehrheit für ihre Asylpolitik haben werde. Kompromisse seien freilich Teil der Regierungsarbeit, „aber eine Partei hat zu definieren, wo genau die rote Linie ist“. Hebein habe diese Frage nun individuell für sich beantwortet.

Die ehemalige Wiener Vizebürgermeisterin Birgit Hebein
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Die Grünen „erreichen nicht mehr mein Herz“, begründete Hebein ihren Austritt

„Grüne agieren nach dem Prinzip Hoffnung“

Bei den Grünen fehlt die rote Linie Filzmaier zufolge nicht nur beim Thema Flucht und Asyl, sondern auch beim Thema der möglichen Anklagen gegen ÖVP-Regierungsmitglieder. Die Grünen agieren bei all dem „nach dem Prinzip Hoffnung“. Ein Beispiel dafür sei der damals vereinbarte „koalitionsfreie Raum“ in Migrationsfragen. Filzmaier bezeichnet diesen als „Schleudersitzklausel“, durch die es für die Koalition möglich sei, die Reißleine zu ziehen.

Die Grünen hätten gehofft, dass nicht wie damals mit dem Jahr 2015 ein Anlassfall auftauchen würde. Allerdings habe es einen solchen bisher bereits zweimal gegeben: einmal mit der Abschiebung der georgischen Schülerin und jetzt mit Afghanistan. „Und es werden noch weitere passieren. Da war zu viel Prinzip Hoffnung dabei“, konstatiert Filzmaier.

Dass Türkis nicht nur in der Farbenlehre zu einem großen Teil aus Blau bestehe, zeige sich auch in der derzeitigen Migrationspolitik: „Was hätten FPÖ-Politiker zum Thema Afghanistan sagen sollen, was nicht (Kanzler Sebastian) Kurz, (Innenminister Karl) Nehammer und (Außenminister Alexander) Schallenberg sowieso gesagt haben?“ Hier habe Türkis das Blau in die Regierung einfach mitgenommen – und die Grünen hätten sich eben damit arrangiert.

Ökostromgesetz gegen Anti-Terror-Paket?

Der Anspruch der Grünen sei offensichtlich gar nicht, weniger blaue Ideen bei Flucht, Asyl und Zuwanderung zuzulassen, sondern mehr grüne Konzepte bei Umwelt und Klima. Filzmaier nennt das „Abtauschgeschäfte“, die „so unschön es auch sein mag, in der Politik nichts Unübliches“ sind. Für die seien die Grünen scheinbar bereit, bis an ihre moralische Schmerzgrenze zu gehen – beziehungsweise diese auch zu erweitern ganz im Sinne von „Tausche Ökostromgesetz gegen Anti-Terror-Paket“.

Letztlich gelte es aber zu beachten, dass Parteien immer auch „Gesinnungsgemeinschaften“ sind – und von diesen erwarte man sich moralisch-ethische Grundwerte. Gerade bei den Grünen, wo der „erhobene Zeigefinger“ doch Teil der Parteiidentität war. Vor diesem Hintergrund stelle sich die Frage, ob Hebein lediglich den „viel zitierten Einzelfall“ darstelle oder sich ihr Fall wiederhole. Dann „wird die Frage der roten Linie umso dringlicher“, so Filzmaier.

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP)
APA/Robert Jaeger
„Was hätten FPÖ-Politiker zum Thema Afghanistan sagen sollen, was nicht Kurz, Nehammer und Schallenberg sowieso gesagt haben?“, so Filzmaier

Gute Umfragewerte: Grüne bei zwölf Prozent

Gleichzeitig seien die heftigsten Kritiker und Kritikerinnen jene Menschen, die die Grünen nicht verlieren können, weil sie sie ohnehin schon verloren haben – etwa damals an die Liste Pilz oder an kleinere linke außerparlamentarische Gruppen wie KPÖ und Wandel.

Und die verbliebenen Wählerinnen und Wähler? „Bisher akzeptieren sie den Preis für die Regierungsbeteiligung“, sagt Filzmaier und verweist auf gute Umfragewerte. Nach dem Rekordergebnis von knapp 14 Prozent lägen die Grünen derzeit nach wie vor bei rund zwölf Prozent. Rein rechnerisch würden sich die Kompromisse also auszahlen: „Die Grünen können ganz kühl sagen, für uns geht die Rechnung auf.“

Auch was die Grünen im Umweltbereich bewirken sei mehr, als ihnen auf der Oppositionsbank möglich wäre. Die Frage sei nur, wie weit die Grünen – mit ihrer Tradition – „Menschenrechtsthemen zum Inhalt von strategisch-kühlen Rechenspielen“ machen könnten, gibt der Politologe zu bedenken.

Abstimmung beim Bundeskongress der Grünen mit Entscheidung über Koalitionsabkommen mit der ÖVP im Jänner 2020
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Beim Bundeskongress im Jänner 2020 war die Mehrheit für das Koalitionsabkommen mit der ÖVP – trotz großer Differenzen

Sinkende Vertrauenswerte, aber Neuwahl in weiter Ferne

„Aufmerksam weiterverfolgen“ müssten die Grünen jedoch ihre Vertrauenswerte. Mit Ausnahme der Justizministerin Alma Zadic hätten alle grünen Regierungsmitglieder schlechtere Werte als im Jänner 2020 – gleiches gelte allerdings für so gut wie alle Spitzenpolitiker. Bei Parteichef Werner Kogler seien diese sogar „stark rückläufig“. „Das führt offensichtlich noch nicht zu einer starken Veränderung im Wahlverhalten, aber es könnte ein Warnsignal sein“, so Filzmaier.

Das Szenario einer Neuwahl sieht der Politologe aber nicht. „Neuwahlen gibt es, wenn eine der beiden Regierungsparteien dadurch einen klaren strategischen Vorteil hat.“ Und das sei, zumindest derzeit, nicht der Fall.

Die ÖVP könne nichts gewinnen, was sie nicht schon habe. „Sie ist Kanzlerpartei und klar Erster.“ Zudem stünde sie dann vor dem Problem einer schwierigen Partnersuche. Und die Grünen? Die könnten schon gar nichts gewinnen. „Die Alternative ist die Oppositionsbank“, so Filzmaier. Zwar könnten die Grünen auf eine Dreiermehrheit mit SPÖ und NEOS setzen, allerdings wäre das wohl ein „sehr lose hängendes Seil“.