Polizei kontrolliert am Donaukanal in Wien
APA/Georg Hochmuth
Gefühl der Freiheit

Pandemie hatte in Österreich größte Wirkung

Eine Studie mit Daten aus zwölf europäischen Ländern gibt Hinweise auf große gesellschaftliche Spaltungen, die mit der Pandemie einhergehen. Deutliche Bruchlinien verlaufen laut der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) zwischen den Regionen und den Generationen. In Österreich fällt besonders der Verlust der gefühlten Freiheit auf: Hier hat sich der Wert am stärksten verändert. Und nur in Deutschland fühlt man sich im Zusammenhang mit CoV noch unfreier.

Ein schwierigeres Unterfangen, als die Stimmung in Europa bezüglich der Pandemiepolitik einzufangen, dürfte es kaum geben. Der Thinktank ECFR versuchte sich nun aber daran und kam zu einigen interessanten Aufschlüssen, die aktuellen und künftigen Regierungen noch viele Aufgaben bereiten werden. Der Bericht mit dem Titel „Europas unsichtbare Gräben: Wie Covid-19 die europäische Politik polarisiert“ stützt sich dabei auf Umfragen aus zwölf EU-Mitgliedsstaaten, darunter Österreich.

Die beiden Autoren Ivan Krastev und Mark Leonard kommen zum Schluss, dass die Lebensrealitäten in der Pandemie Europa „genau wie die Euro- und die Flüchtlingskrise gespalten haben, mit einem Süden und einem Osten, die sich weit stärker beeinträchtigt fühlen“ als Nord und West. „Manche Menschen waren direkt von Krankheit betroffen, manche erlebten nur wirtschaftliche Folgen, während andere sich von Covid-19 unberührt fühlen. Die wirtschaftlich Leidtragenden sagen wahrscheinlicher als andere, dass die Einschränkungen zu streng waren, und sie neigen dazu, skeptischer gegenüber den Absichten ihrer Regierungen zu sein.“

Nur ein Fünftel fühlt sich „frei“

Die Erhebungen zeigen auch eine wachsende Kluft bei der Auffassung von individueller Freiheit: Nur 22 Prozent der Menschen in den befragten Ländern gaben an, dass sie sich derzeit „frei“ fühlten; 64 Prozent gaben hingegen an, dass sie sich vor zwei Jahren sehr wohl noch „frei“ gefühlt haben.

Grafik zur Umfrage bezüglich CoV
Grafik: ORF.at; Quelle: ECFR

Am stärksten ist das Gefühl der Unfreiheit in Deutschland und Österreich ausgeprägt. Hier sagten 49 bzw. 42 Prozent, sie seien nicht in der Lage, ihr tägliches Leben so zu gestalten, wie sie es für richtig halten. Nur in den Augen von 15 Prozent der Befragten haben das Virus und seine Folgen keine Auswirkung auf die persönliche Freiheit im Alltag. Österreich weist in der Freiheitsfrage zudem die stärkste Veränderung aus zwischen dem Leben vor der Pandemie und heute. 78 Prozent gaben hier an, dass sie sich vor zwei Jahren noch „frei“ fühlten – diese Spanne zwischen damals und heute ist in Österreich am größten.

Pandemie als „Zuschauersport“

Überraschend mutet an, dass sich laut dem Bericht mit 54 Prozent eine Mehrheit der insgesamt über 16.000 Befragten von der Pandemie „überhaupt nicht“ betroffen sehen. Gemeint ist hier allerdings, dass die Befragten selbst keine schwere Erkrankung, keinen Trauerfall sowie keine wirtschaftliche Notlage erlitten. Die hohe Zahl täusche zudem „darüber hinweg, dass es gewissermaßen zwei Pandemien innerhalb der Gemeinschaft gibt“, heißt es.

Österreich im „Westen“

Die Studienautoren teilten die Regionen wie folgt auf: Norden (Schweden, Dänemark), Westen (Österreich, Frankreich, Deutschland, Niederlande), Osten (Polen, Ungarn, Bulgarien), Süden (Italien, Portugal, Spanien)

Während in Süd- und Osteuropa mehrheitlich angegeben wurde, dass das Virus schwere Auswirkungen auf das Leben der Menschen hatte, sei das in West- und Nordeuropa grundlegend anders. Hier hätten viele das Gefühl geäußert, das Virus verursache Zustände, die eher einem „grausigen Zuschauersport“ gleichkämen als einem erschütternden Lebensereignis. So hätten etwa in Ungarn 65 Prozent der Befragten angegeben, persönliche Belastungen erfahren zu haben, in Dänemark meinten hingegen 72 Prozent, die Pandemie habe sie „überhaupt nicht“ betroffen. In Österreich sagten demnach auch noch 51 Prozent, das Virus habe sie persönlich nicht getroffen.

Eine Frage des Alters

Krastev und Leonard sehen im Bericht auch „eine beunruhigende Kluft zwischen den Generationen in der europäischen Gesellschaft ans Licht“ kommen: Die Älteren fühlen sich weniger betroffen, die Jüngeren hingegen stark. Während fast zwei Drittel (64 Prozent) der Befragten über 60 Jahre sagen, sie erlebten keine persönlichen Nachteile durch die Pandemie, sinkt dieser Anteil bei den unter 30-Jährigen auf 43 Prozent. Sie sind der Ansicht, dass sie die Hauptlast der Nachwirkungen der Krise tragen, besonders im Süden und Osten Europas. Die jüngeren Europäerinnen und Europäer seien zudem viel eher geneigt, staatlich verordnete Einschränkungen infrage zu stellen, so die Erhebung.

Grafik zur Umfrage bezüglich CoV
Grafik: ORF.at; Quelle: ECFR

Stark unterschiedlich ausgeprägt sind auch die Einschätzungen der Beweggründe der Staatsregierungen bei der Verhängung von Pandemieregeln. In manchen Teilen Europas ist das Misstrauen groß. Insgesamt sagten 17 Prozent, die Motivation ihrer Regierung für die Einschränkungen der letzten achtzehn Monate sei das Bestreben, „die Gesellschaft zu kontrollieren“. Von den zwölf beteiligten Ländern hatten die Menschen in Polen die größte Skepsis.

Hier glauben nur 38 Prozent daran, dass die Strategie ausschließlich dazu diene, das Virus einzudämmen. Fast ebenso viele (34 Prozent) misstrauten der polnischen Regierung in dieser Frage, und weitere 27 Prozent waren der Ansicht, dass es die größte Motivation der Regierung war, mit dem Anschein des Handelns von Ohnmacht oder Inkompetenz abzulenken. In Österreich sagten zwei Drittel der Befragten, sie trauten den Beweggründen hinter der politischen Covid-Strategie, wohingegen immerhin 18 Prozent Kontrollwunsch hinter den Einschränkungen orteten.

Auftrag an die Politik

Die Gräben, die die Pandemie zwischen den Regionen und Generationen aufgetan hat, könnten laut den Autoren „tiefgreifende Auswirkungen auf einige der wichtigsten Projekte der EU haben“, wie das Recht auf Freizügigkeit, die Zukunft des gesamteuropäischen Konjunkturprogramms und die Beziehungen der EU zum Rest der Welt. Krastev und Leonard sehen in der Pandemie einmal mehr eine „Geschichte von zwei Europas“, ähnlich wie schon die Erfahrungen der Euro-Krise und der Flüchtlingsbewegung 2015 zeigten.

ECFR

Der European Council on Foreign Relations (ECFR) versteht sich als erste paneuropäische Denkfabrik und forscht zum Schwerpunkt Außenpolitik. Zu den fünfzig Gründungsmitgliedern gehören auch Ex-Finanzminister Hannes Androsch (SPÖ) und der Diplomat Albert Rohan.

„Die Pandemie schien die europäischen Nationen zunächst einander näher zu bringen“, so die Analyse. Die Staaten kauften gemeinsam über die EU Impfstoffe ein und schufen den Wiederaufbaufonds. Doch jetzt beginne Europa damit, sich mit den langfristigen Auswirkungen der Pandemie auseinanderzusetzen, und es bestehe das Risiko einer „tiefen Kluft“. Diese Spaltungen „könnten in Europa ein neues politisches Zeitalter einleiten, wenn sie offen zutage treten“, so der Politologe Krastev. „In vielen Ländern brodeln die gesellschaftlichen Spannungen bereits an die Oberfläche.“

Eine besondere Herausforderung sieht der Forscher vor allem in den Meinungsunterschieden zwischen den Generationen. Die Politik habe auf dem Höhepunkt der Krise „zu Recht den Schwerpunkt auf die Rettung der Leben der Älteren gelegt“. Jetzt sei es aber an der Zeit, „sich auf die Probleme der Jungen zu konzentrieren“.