Anthony Hopkins in „The Father“
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„The Father“

Im Kopf eines Demenzkranken

Es war die Überraschung der diesjährigen Oscar-Verleihung, als nicht Chadwick Boseman postum für „Ma Rainey’s Black Bottom“, sondern Anthony Hopkins für „The Father“ als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet wurde. Mit mehrmonatiger Verspätung kommt nun das Drama rund um einen demenzkranken 80-Jährigen ins Kino. Die Kritiken zeigten sich einhellig begeistert von Hopkins’ intensiver Schauspielkunst – und den erzählerischen Kniffen des Films.

Der Plot von „The Father“ ist im Grunde schnell erzählt: Der Film handelt von einem rüstigen, stolzen und oft mürrischen Witwer namens Anthony (Hopkins), der in einer prächtig ausgestatteten Wohnung in einem teuren Teil Londons wohnt, in der der Film fast ausschließlich spielt. Anthony ist an Demenz erkrankt, die schrittweise Verschlechterung seines Zustandes macht ihm zusehends zu schaffen.

Mit seinem Gesundheitszustand ringt auch – wenn auch auf ganz andere Art und Weise – seine fürsorgliche Tochter Anne (Olivia Colman), die ihn täglich besucht. Die Dinge laufen nämlich schief. Ihr Vater hat Stimmungsschwankungen und Wutausbrüche. Seine letzte Betreuerin hat gerade gekündigt, weil Anthony sie verdächtigt hat, seine Uhr gestohlen zu haben. Anne holt diese schließlich aus einem Versteck unter der Badewanne – was den Vater jedoch nicht überzeugen kann: Hätte die Betreuerin gewusst, wo die Uhr sei, dann hätte sie sie wohl gestohlen, bringt Anthony vor.

Anthony Hopkins und Olivia Colman in „The Father“
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In der gediegenen Wohnung: Anthony (Anthony Hopkins), Anne (Olivia Colman) und die als neue Betreuerin engagierte Laura (l.: Imogen Poots)

Theaterstück als Grundlage

Die Szene steht stellvertretend für die Wahrnehmungsverschiebung, die der französische Autor und Regisseur Florian Zeller in „The Father“, seinem Debütfilm, eindringlich und bisweilen verstörend porträtiert. Zeller ist eigentlich am Theater beheimatet, die Geschichte hat er bereits 2012 als – ebenso hochgelobtes und preisgekröntes – Theaterstück inszeniert.

Anstelle eines Fokus auf zwischenmenschliche Dramen und der Erzählung eines fortschreitenden Krankheitsverlaufs zeichnet „The Father“ nun vor allem eines aus: Er macht auf intensive Weise nachvollziehbar, was es heißen muss, den Bezug zur Realität zu verlieren. Die Menschen, die Umgebung und die Zeit erscheinen für Anthony immer brüchiger, und mehr und mehr wirkt dieser als Protagonist eines düsteren, höchst verwirrenden Thrillers gefordert – mit dem unendlich traurigen wie frustrierenden Unterschied, dass sich diese Thrillerhandlung allein in seinem Kopf abspielt.

Film nimmt Zuschauer in verwirrende Welt mit

Um die Zuseherinnen und Zuseher direkt in diese Welt mitzunehmen, also quasi direkt in Anthonys Kopf zu versetzen, setzt Zeller auf verschiedene filmische Kniffe: Er inszeniert die Geschichte nicht strikt chronologisch und nicht kohärent, sondern baut verstörende Zeitsprünge, Zeitschleifen und andere „Fehler“ ein.

Olivia Colman in „The Father“
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Colman spielt Anne als Tochter zwischen Einfühlung, Abgrenzung und Verzweiflung

Anstelle von Colman taucht etwa plötzlich Olivia Williams in seiner Wohnung auf und gibt mit unschuldiger Miene zu verstehen, dass sie doch die Tochter sei, so, als wäre alles beim Alten. Während eines Frühstücksgesprächs, das gerade noch im Morgenlicht stattfand, fängt es zu dämmern an.

Die Einrichtung der Wohnung verändert sich plötzlich. Und nicht nur einmal muss sich Anthony fragen, ob das Gespräch mit Anne, etwa über ihren geplanten Umzug nach Paris, tatsächlich stattgefunden hat. Und: Gab es neulich wirklich Streit mit Annes Ehemann – und existiert dieser Ehemann überhaupt?

„Zutiefst erschütternd"

Die Kritik zeigte sich von „The Father“ jedenfalls einhellig überzeugt: „Herzzerreißend“ schrieb die „Times“, „zutiefst erschütternd“, meinte etwa auch die „New York Times“; von einem „schwierigen, oft ziemlich brutalen Seherlebnis“, das angesichts des Themas jedoch nötig sei, sprach der „Guardian“.

Neben dem beeindruckenden Perspektivwechsel in das Innenleben eines Demenzkranken feierte die Kritik vor allem auch die schauspielerischen Leistungen: Coleman (bekannt etwa aus „The Crown“ und „The Favourite“) wurde für ihre intensive Darstellung der Tochter gelobt, deren Gefühlswelt zwischen Liebe und Ärger, Hoffnung und Verzweiflung changiert.

Einhelliges Lob für Hopkins

Allen voran galt das Lob aber Hopkins, der 29 Jahre nach seiner ersten Auszeichnung für „Das Schweigen der Lämmer“ und nur ein Jahr nach seiner Nominierung für „Die zwei Päpste“ den Oscar als bester Hauptdarsteller bekam. Mit wenig Körpereinsatz, aber umso intensiveren, kleinen Gesten mache dieser die ganze Bandbreite an Emotion – „die Wut, die Empörung, die Aufregung“ – auf atemberaubende Weise spürbar, so der „Guardian“.

In die gleiche Kerbe schlug auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“) anlässlich eines Interviews im April: „Es ist tief berührend, mit welcher Schlichtheit und welch stillem Schmerz der vielfach preisgekrönte und geadelte 83-jährige Hopkins die Verwirrung und versch(r)obene Realität des demenzkranken Vaters vermittelt“. Ab Donnerstag ist der Film nun in den Kinos zu sehen.