Die Parlamentswahl Mitte September rückt mit großen Schritten näher. Für die freie Presse im Land wird die Luft damit dünner. Während die Welt das rigorose Vorgehen gegen Journalistinnen und Journalisten im benachbarten Belarus mit Argusaugen beobachtete, häuften sich in den letzten Wochen und Monaten auch beim großen Bruder Russland Meldungen über Repressionen gegen Medien.
Moskau, so scheint es, hat in den letzten Monaten ein neues Lieblingsmittel entdeckt, um kremlkritischen Journalistinnen und Journalisten Steine in den Weg zu legen. Denn kritische Medien – und auch deren Redakteure – werden von den Behörden nun gehäuft als „ausländische Agenten“ eingestuft. Die Kennzeichnung geschieht auf Grundlage des Agentengesetzes. Diese sieht vor, dass sich Medien und Organisationen als „ausländische Agenten“ registrieren müssen, wenn sie sich mit Geld aus dem Ausland finanzieren.

Medien beklagen Stigmatisierung
Die Probleme, die jene Kennzeichnung mit sich bringt, sind vielschichtig. So sehen sich Medien etwa dazu gezwungen, bei jeder ihrer Veröffentlichungen offenzulegen, dass sie „Auslandsagenten“ seien. Das sei stigmatisierend, so die Kritik. Denn das Label führe dazu, dass sich Anzeigenkunden aber auch Publikum teils verabschieden – was wiederum zur Folge hat, dass die wirtschaftliche Existenz jener Unternehmen gefährdet wird.
Abschreckend wirkt sich die Kennzeichnung zudem auf Quellen aus – denn interviewte Personen würden dem Gesetz zufolge an der Erstellung von Nachrichteninhalten von „ausländischen Agenten“ teilnehmen und seien dadurch selbst von diesem Status bedroht, so Galina Timtschenko, die Chefin von Russlands führendem Onlinemedium Meduza, das ebenso zu den Betroffenen zählt.
Russland geht hart gegen TV-Sender vor
Russlands letzter, unabhängiger Sender wird durch die Regierung offiziell als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt. Die Belegschaft von TV Rain versteht die Etikettierung als Rache für jahrelange kremlkritische Berichterstattung.
Darüber hinaus können Redakteure, die für jene Medienhäuser arbeiten, als „Auslandsagenten“ registriert werden. Das hat zur Folge, dass sie das Justizministerium alle paar Monate über all ihre Ein- und Ausnahmen informieren müssen. Geschieht das nicht oder nur unzureichend, drohen beim ersten und zweiten Mal Geldstrafen und in der Folge auch bis zu zwei Jahre Freiheitsentzug. Erst Ende 2020 wurde das Agentengesetz verschärft. Zuvor war es 2017 von NGOs auf Medien ausgeweitet worden, nachdem der vom Kreml finanzierte Sender RT in den USA zum „ausländischen Agenten“ erklärt worden war.
Renommierte Medien stellen Arbeit ein
Als „Auslandsagenten“ wurden in den vergangenen Wochen etwa das regierungskritische Portal Meduza, die Investigativplattform iStories und der Internetsender Doschd eingestuft. Jüngste Demos gegen die Entscheidung hatten die Festnahmen von neun Journalisten zur Folge, die meisten davon sind inzwischen wieder auf freiem Fuß. Ebenso wurden das Wirtschaftsportal VTimes und Newsru.com, eines der ältesten unabhängigen Nachrichtenportale Russlands, zu „Auslandsagenten“ ernannt. Letztere gaben in Reaktion gar deren Auflösung bekannt.
VTimes erklärte den Schritt mit der drohenden Verfolgung durch die Justiz. Das Portal hatten vor einem Jahr frühere Mitglieder der renommierten Moskauer Tageszeitung „Wedomosti“ gegründet, nachdem diese von einem neuen Eigentümer übernommen wurde, dem sie Zensur vorwarfen. „Wir stellen die Arbeit aus wirtschaftlichen Gründen ein, aber hervorgerufen wurden diese durch die politische Situation in unserem Land“, begründete Newsru.com Ende Mai wiederum die Entscheidung.

Meduza nimmt Agentengesetz aufs Korn
Ein ähnliches Schicksal droht auch Meduza und Doschd. Meduza beklagte, aufgrund der Brandmarkung seien auf einen Schlag wichtige Werbepartner weggebrochen. Das Medium mit Sitz in Lettland musste Redaktionsräume schließen, die Gehälter der Mitarbeiter drastisch reduzieren und kämpft ums Überleben.
Über Wasser halten konnte sich das Medium vorerst mit Hilfe einer Crowdfunding-Kampagne, an der sich 90.000 Menschen beteiligten. Auch den Humor ließ man sich bei Meduza nicht nehmen: „Werde ein Sommeragent“, hieß es in einem Spendenaufruf in Anspielung an das Label etwa. In einem Instagram-Posting wurden Abonnentinnen und Abonnenten aufgerufen, ihren „Auslandsagentenschwarm“ zu markieren, berichtete die „New York Times“.

Investigativplattform als „unerwünschte Organisation“
Die Einstufung als „Auslandsagent“ scheint dabei noch relativ mild – so ist es in Russland für Medien und NGOs auch möglich, als „unerwünschte Organisation“ gekennzeichnet zu werden. Das bedeutet, dass jede Verbindung zum Medium automatisch ein Verbrechen darstellt. Als „unerwünschte Organisation“ wurde Mitte Juli etwa die US-Nichtregierungsorganisation Proekt.media eingestuft. Damit einher geht faktisch ein Betätigungsverbot.
Die Organisation ist Herausgeber der Investigativplattform Proekt. Sie berichtet in mehreren sozialen Netzwerken etwa über Korruption und Machtmissbrauch in Russland. Zudem wurden mehrere Journalisten der seit 2018 existierenden Investigativplattform vom Justizministerium als „ausländische Agenten“ eingestuft – darunter der Chefredakteur Roman Badanin, aber auch eine Reporterin des US-Radiosenders Radio Free Europe. Die EU und die Organisation Reporter ohne Grenzen hatten das Vorgehen der russischen Justiz als Angriff auf die Pressefreiheit kritisiert.
Offener Brief gegen „Staatskampagne“
Auch die Redaktionen setzen sich zur Wehr: Einige der betroffenen Medien forderten in einem offenen Brief an Präsident Wladimir Putin am Freitag ein Ende der „Staatskampagne“ gegen unabhängigen Journalismus. Die Regierung führe einen Feldzug gegen kritische Medien und übe Druck auf unliebsame Journalisten aus, hieß es. Zu den Initiatoren des Briefs zählen unter anderem Meduza, Doschd, die russische Journalistengewerkschaft, der russische Ableger des Magazins „Forbes“ und mehrere andere Medienunternehmen.
Die Einstufung als „ausländischer Agent“ sei unvereinbar mit der Verfassung und verstoße gegen das Mediengesetz und die freie Meinungsäußerung, erklärten sie. Der Status führe entweder zur Schließung des betreffenden Mediums oder schaffe „diskriminierende Bedingungen“, welche die Arbeit der Journalistinnen und Journalisten einschränkten. Für 4. September ist laut der Journalistengewerkschaft auch eine Demonstration geplant.
Putins Sprecher Dmitri Peskow wies die in dem offenen Brief erhobenen Forderungen umgehend zurück. Die Behörden setzten lediglich geltendes Recht um, sagte Peskow. Darüber, wie das Gesetz angewandt wird, lasse sich aber diskutieren.
Rigoroses Vorgehen gegen Oppositionelle
Nicht nur Medien, insbesondere auch gegen die Opposition wird im Vorfeld der Wahl rigoros vorgegangen. Die Organisationen des bekannten inhaftierten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny stuften die Behörden Anfang Juni auf Basis eines kurz zuvor in Kraft getretenen Gesetzes als „extremistisch“ ein. Ihre Mitglieder wurden damit von der Teilnahme an den Wahlen ausgeschlossen. Aus Angst vor Strafverfolgung haben zahlreiche Oppositionelle das Land verlassen.
Das Gesetz betrifft nicht nur Mitglieder von Nawalnys Team, sondern möglicherweise Zehntausende Russinnen und Russen, die seine Arbeit mit Spenden unterstützt haben. Vorsitzende „extremistischer“ Gruppen dürfen laut Gesetzestext fünf Jahre lang nicht bei Parlamentswahlen kandidieren, während Anhänger und diejenigen, die bei der Finanzierung ihrer Arbeit geholfen haben, drei Jahre lang nicht kandidieren dürfen.
Die Parlamentswahl findet vom 17. bis 19. September über drei Tage verteilt statt – nach offiziellen Angaben als Schutzmaßnahme gegen das Coronavirus. Oppositionelle beklagen aber, dass das Wahlbetrug erleichtere, da es schwierig sei, die Wahlurnen drei Tage und zwei Nächte lang zu beobachten. Bereits im vergangenen Jahr hatten die Russen eine Woche lang über eine Verfassungsänderung abgestimmt, die es Putin nun ermöglicht, bis 2036 im Amt zu bleiben.