US-Präsident Joe Biden
Reuters/Leah Millis
Afghanistan-Abzug

Bidens „America First“-Fiasko

Das letzte Kapitel des ohnehin widrig verlaufenen 20-jährigen Afghanistan-Einsatzes erweist sich als ein dunkles, der Anschlag auf den Flughafen Kabul mit Dutzenden Toten am Donnerstag wurde dabei zum Einschnitt. Auch 13 US-Soldaten starben, es war damit die tödlichste Attacke auf US-Truppen seit zehn Jahren. Das Fiasko fällt mit Wucht auf US-Präsident Joe Biden zurück.

Seit die Taliban – zuletzt quasi ohne großen Widerstand – die Macht in Afghanistan übernommen hatten und damit die jahrelangen Bemühungen zum Aufbau einer stabilen Regierung schwer in Zweifel gezogen wurden, prasseln täglich harte Kritik, Häme und Unverständnis auf Biden nieder. Kritiker sahen nicht nur einen außenpolitischen Fehlschlag mit gravierenden Konsequenzen für Afghanistan und das Ansehen der USA, sondern auch einen Verrat seiner politischen Ideale – samt Anleihen an der Politik seines Vorgängers Donald Trump.

Der Präsident lasse sich in Verhandlungen über den Abzug von den Taliban gängeln, der Abzug aus Afghanistan sei „einer der armseligsten amerikanischen Fehlschläge seit Jahrzehnten“, hieß es etwa im „Wall Street Journal“. Einen „spirituellen Sieg für Trumps ‚America First‘-Politik“ ortete gar die „Washington Post“. Biden verteidige trotzig und unflexibel eine unvorbereitet getroffene Entscheidung, von der ihm zahlreiche Fachleute und Verbündete abgeraten hätten, so der Tenor der Kritik.

Druck in den USA steigt

Doch das war noch vor dem tödlichen Anschlag von Donnerstag. Der Gewaltakt erhöht den innenpolitischen Druck auf Biden entschieden. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Nachricht trafen erste Rücktrittsforderungen der Republikaner ein, der Ton verschärfte sich, und in diversen Medien und sozialen Netzwerken liefen die Debatten heiß – auch weil Biden bei der Würdigung der gestorbenen Soldaten seinen Kurs verteidigte. In den Reihen der Demokraten regte sich ebenfalls Unmut.

Emotionaler US-Präsident Joe Biden bei einer Pressekonferenez
Reuters/Jonathan Ernst
Biden würdigte am Donnerstag die gefallenen Soldaten – und pochte weiter auf seine Entscheidung

Die nächsten Tage dürften nun zum Drahtseilakt für Biden werden. Er warnte bereits zu Beginn der Woche vor einer möglichen Attacke und begründete den hastigen Abzug am Montag auch damit, dass das Risiko eines Terrorakts mit jedem Tag wachse. Die Befürchtungen bestätigten sich, die Gefahr ist aber nach wie vor nicht beseitigt. Die US-Armee rüstete für weitere Anschläge. Gleichzeitig steht Biden vor der Herausforderung, möglichst viele US-Bürger und Gefährdete aus dem Land zu bringen, damit diese nicht in Afghanistan stranden.

Rückhalt für Entscheidung, Groll über Umsetzung

Biden hatte sich in den vergangenen Tagen vehement hinter seinen Kurs gestellt und wiederholt betont, dass er die „endlosen Kriege der USA“ so rasch wie möglich beenden wolle. Man wolle nicht weitere Tausende amerikanische Leben aufs Spiel setzen, um Afghanistan zu vereinigen, so Biden noch vor dem Anschlag. Die Stimmung in den USA gab ihm dabei im Grunde recht: Der Abzug aus Afghanistan nach 20-jährigem US-Einsatz wird von einer deutlichen Mehrheit von 63 Prozent befürwortet. Die Umfragewerte bewegen sich bereits seit Jahren auf diesem Niveau, der Einsatz ist schon lange unpopulär.

Bidens Narrativ wackelt

Doch das sich nun entfaltende Chaos und die zu beklagenden Toten ändern die Lage – nicht zuletzt, weil sie Bidens großes Narrativ infrage stellt und Erwartungen enttäuscht. Bis dato hatte sich Biden stets als Gegenprogramm zu seinem Vorgänger Trump positioniert, der den US-Abzug aus Afghanistan eingeleitet hatte. Empathie und die Abkehr von Trumps „America First“-Strategie wurden als Eckpfeiler von Bidens Politik beworben. Zudem hatte Biden stets betont, die USA müssten wieder auf die „Weltbühne“ zurückkehren, sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen und transatlantische Bündnisse stärken.

Kritiker und Kritikerinnen sehen nach dem Abzug der USA aus Afghanistan diese Prinzipien grob verletzt. So fragte sich etwa zuletzt die „Washington Post“, ob dieser Anspruch der Wahrung der Menschenrechte nicht für die Millionen Afghaninnen und Afghanen gelte, die nun vom radikalislamischen Regime der Taliban bedroht seien.

Taliban nicht das einzige Risiko

Gleichzeitig verdeutlicht der Terroranschlag auch, in welch instabilem und zerrissenem Zustand Afghanistan hinterlassen wird und dass die Gefahr für die Bevölkerung und die gesamte Region bei Weitem nicht nur von den Taliban ausgeht. Denn verübt wurde die Attacke von einer mit den Taliban konkurrierenden lokalen Splittergruppe der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Diese wolle man nun „jagen und büßen lassen“, so Biden. Die US-Regierung habe ihre Entschlossenheit betont, „er hat klargemacht, dass er nicht will, dass sie noch auf der Erde leben“, sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, am Freitag in Washington mit Blick auf Bidens Aussage.

Am Freitag gab das US-Zentralkommando Centcom bekannt, dass ein unbemannter Luftschlag in der afghanischen Provinz Nangahar „einem Planer“ des IS-Ablegers gegolten habe. „Ersten Anzeichen zufolge haben wir das Ziel getötet“, sagte Sprecher Bill Urban. Damit dürfte es vorläufig wohl kein Ende der Einmischung der USA in Afghanistans Konflikte geben.

Afghanen an der afghanisch-pakistanischen Grenze
APA/AFP
Menschen auf der Flucht an der afghanisch-pakistanischen Grenze

Der Kurs und das Versagen der USA beim Abzug seien eine Einladung an Islamisten aller Welt, dieses für Propaganda und Rekrutierung zu nutzen, warnte zuletzt das „Wall Street Journal“. Aber auch an anderen außenpolitischen Fronten sei das Bild fatal. Der Afghanistan-Abzug erweise sich auf der weltpolitischen Bühne zunehmend als Steilvorlage für konkurrierende Weltmächte wie China und Russland, er sende auch falsche Signale an andere Staaten in heiklen Situationen, etwa Taiwan.

Weltbühne: Rückzug statt Rückkehr

Auch für die Verbündeten im Westen dürfte der Einsatz eine herbe Enttäuschung sein. Den anderen in Afghanistan involvierten Staaten wurde gerade bei der Evakuierungsmission vorgeführt, wie abhängig sie nach wie vor vom Handeln der USA sind. Die endgültige Entscheidung für den Abzug hing am Weißen Haus, mit den Folgen kämpfen muss nun allerdings die gesamte internationale Gemeinschaft. Von Bidens Versprechen einer „Rückkehr des Westens“ bleibt vor dem Hintergrund des Afghanistan-Abzugs nun jedenfalls ein bitterer Nachgeschmack.