Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel
Reuters/Michele Tantussi
„Neue Realität bitter“

Merkel für Verhandlungen mit Taliban

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat Fehleinschätzungen der internationalen Gemeinschaft zur Entwicklung in Afghanistan eingeräumt. „Klar ist: Die Taliban sind jetzt Realität in Afghanistan“, sagte Merkel am Mittwoch in einer Regierungserklärung im Bundestag. „Diese neue Realität ist bitter.“ Ihre Regierung werde sich aber nicht scheuen, Gespräche mit den radikalislamischen Taliban zu führen. Die Taliban versprachen indes, Afghanen auch nach dem US-Truppenabzug ausreisen zu lassen.

„Unser Ziel muss es sein, dass so viel wie möglich von dem, was wir in den letzten 20 Jahren in Afghanistan an Veränderungen erreicht haben, bewahrt wird“, sagte Merkel. Die Kanzlerin nannte zwei weitere Ziele der derzeitigen deutschen Afghanistan-Politik. Zum einen solle der Evakuierungseinsatz „so lange wie möglich“ fortgesetzt werden, „um auch Afghaninnen und Afghanen, die sich mit uns für Sicherheit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Entwicklung eingesetzt haben, das Verlassen des Landes zu ermöglichen“.

Zum anderen werde Deutschland die Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen bei der Notversorgung der Menschen in Afghanistan unterstützen. Die Bundesregierung werde daher neben 100 Mio. Euro Soforthilfe weitere 500 Mio. Euro für die humanitäre Hilfe in Afghanistan und den Nachbarländern zur Verfügung stellen.

Rede der deutschen Kanzlerin Angela Merkel vor dem Bundestag
Reuters/Michele Tantussi
Merkel betonte in ihrer Rede, dass man die Lage in Afghanistan unterschätzt habe, der Einsatz aber nicht vergebens gewesen sei

Lage „unterschätzt“

Abermals räumte die deutsche Kanzlerin Fehleinschätzungen ihrer Bundesregierung und ihrer internationalen Partner ein. Es sei unterschätzt worden, „wie umfassend und atemberaubend“ schnell der Widerstand gegen die radikalislamischen Taliban aufgegeben worden sei, sagte Merkel. Die gesamte internationale Koalition habe die Geschwindigkeit dieser Entwicklung „ganz offensichtlich unterschätzt“.

In diesem Zusammenhang wolle sie sich aber auch eine „etwas zugespitzte persönliche Anmerkung“ erlauben, sagte die Kanzlerin. „Hinterher, im Nachhinein, präzise Analysen und Bewertungen zu machen, das ist nicht wirklich kompliziert“, sagte sie. „Wir, die internationale Staatengemeinschaft, wir konnten aber nicht hinterher, im Nachhinein, entscheiden.“

Merkel sichert Ortskräften weitere Unterstützung zu

Merkel sagte ein weiteres Engagement zur Rettung der ehemaligen Ortskräfte zu: „Wir bemühen uns weiterhin mit allen Kräften, vor allem den Afghanen zum Verlassen des Landes zu verhelfen, die Deutschland als Ortskräfte der Bundeswehr, der Polizei und der Entwicklungszusammenarbeit zur Seite gestanden und sich für ein sicheres, freies Land mit Zukunftsperspektiven eingesetzt haben.“

Die Kanzlerin zeigte sich erschüttert über die Lage in Afghanistan. Die Entwicklung der vergangenen Tage sei „furchtbar“ und „bitter“. Für die Menschen in Afghanistan sei das eine „einzige Tragödie“, vor allem für diejenigen, die sich für eine freie Gesellschaft eingesetzt hätten.

Merkel rief dazu auf, die Geschehnisse in Afghanistan in Ruhe zu analysieren und dann Lehren für künftige Militäreinsätze im Ausland zu ziehen: „Von den Antworten wird abhängen, welche politischen Ziele wir uns realistischerweise für zukünftige und für aktuelle weitere Einsätze im Ausland setzen dürfen.“

Merkel nannte eine Reihe von Fragen, die nun geklärt werden müssten – etwa: „Waren unsere Ziele zu ehrgeizig? Kamen diese Ziele und die mit ihnen verbundenen Werte bei aller Unterstützung aus der afghanischen Zivilgesellschaft wirklich bei der Mehrheit der Menschen in Afghanistan an? Haben wir das Maß der Korruption beziehungsweise ihre Wirkung bei den verantwortlichen Afghanen unterschätzt?“

Die deutsche Bundeswehr bei der Registrierung von evakuierten Flüchtlingen aus der afghanischen Hauptstadt Kabul
APA/AFP/Marc Tessensohn
Die deutsche Evakuierungsmission ist in vollem Gange – Menschen werden über Usbekistan ausgeflogen

Opposition mit vernichtendem Urteil

Die Opposition im deutschen Bundestag zog im Anschluss an Merkels Regierungserklärung ein vernichtendes Fazit der deutschen Afghanistan-Politik. Der „gescheiterte Afghanistan-Einsatz“ sei der „schwärzeste Punkt“ in der 16-jährigen Kanzlerinnenschaft von Merkel, sagte Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch.

Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sprach von einem „außenpolitischen Desaster“ und forderte einen Untersuchungsausschuss wie auch einen sofortigen internationalen Gipfel. FDP-Chef Christian Linder warf der Bundesregierung „Unverantwortlichkeit und Handlungsunfähigkeit“ vor. Der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland legte der Regierung zur Last, dass sie das Leben deutscher Soldaten für eine zum Scheitern verurteilte Mission geopfert habe.

Keine Angaben zu Ende der Evakuierungsflüge

Merkel machte in ihrer Rede keine Angaben dazu, wie lange die Evakuierungsflüge der Bundeswehr noch andauern. Aus Sicherheitskreisen hatte es zuvor geheißen, dass die Bundeswehr-Luftbrücke voraussichtlich schon am Freitag enden werde. Merkel betonte, das Ende der Luftbrücke dürfe nicht das Ende der Bemühungen sein, afghanischen Ortskräften zu helfen.

Der Bundestag stimmte dem Einsatz von bis zu 600 Bundeswehrsoldaten bei der Evakuierungsaktion in der afghanischen Hauptstadt Kabul daraufhin nachträglich zu. Die Abgeordneten billigten das bis zum 30. September befristete Mandat mit großer Mehrheit.

Ein Sprecher des deutschen Verteidigungsministeriums sagte in Berlin mit Blick auf das bevorstehende Ende der Evakuierungsmission: „Jetzt beginnen für uns die anspruchvollsten und auch die gefährlichsten Stunden.“ Die Sicherheitslage auf dem Kabuler Flughafen habe sich immer weiter verschärft und verschärfe sich weiter. Die USA halten unterdessen an ihrem geplanten Abzug aus Afghanistan spätestens am Dienstag fest, die europäischen Evakuierungsmissionen könnten bereits diese Woche abgeschlossen werden.

Taliban sagen Ausreisemöglichkeit nach Truppenabzug zu

Die Taliban sagten der deutschen Regierung laut Verhandlungsführer Markus Potzel indes aber auch zu, dass Afghanen auch nach dem für den 31. August geplanten US-Truppenabzug das Land verlassen dürfen. Das twitterte Potzel am Mittwoch nach Gesprächen mit dem Vizechef des politischen Büros der Taliban in Katar, Schir Mohammed Abbas Staneksai.

Dieser habe ihm versichert, dass Afghanen mit gültigen Ausweisdokumenten nach dem 31. August weiterhin die Möglichkeit haben werden, mit kommerziellen Flügen auszureisen. Der Sprecher des politischen Büros der Taliban in Doha, Suhail Schahin, schrieb am Mittwoch unter Bezug auf das Treffen mit Potzel auf Twitter, der fristgerechte Abzug der ausländischen Truppen aus Afghanistan ebne die Wiederaufnahme ziviler Flüge.

Forderungen nach Engagement der Nachbarländer

Angesichts des nahenden Endes der Evakuierungsflüge werden auch Forderungen nach einem verstärkten Engagement der Nachbarländer laut. „Iran, Pakistan und Tadschikistan sollten mehr Menschen über Land oder Luft herausholen“, sagte ein NATO-Diplomat am Mittwoch gegenüber Reuters. Die Länder sollten ihre Grenzen öffnen, forderte der Diplomat.

Zeit für Evakuierungen wird knapp

Die USA bleiben beim 31. August als Abzugstermin aus Afghanistan, auch die Taliban wollen die Frist nicht verlängern. Für die Menschen, die noch in Kabul auf ihre Rettung warten, wird es eng.

In der Hoffnung auf einen Evakuierungsflug harren indes weiter Tausende Afghaninnen und Afghanen um den Kabuler Airport aus. Ein Taliban-Sprecher sagte am Mittwoch gegenüber der dpa, dass an ihren Kontrollpunkten weiterhin Afghaninnen und Afghanen zum Flughafen durchgelassen werden, jedoch nur solche mit Dokumenten, die sie auch zur Ausreise berechtigen.