Eine Nomadin kehrt vor ihrer Niederlassung
AP/Rahmat Gul
Taliban

Afghanistans vergessenes Hinterland

Seit der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban sind die Blicke der Weltöffentlichkeit auf Kabul gerichtet. Debatten über Menschenrechtsverletzungen, Evakuierungsflüge und die Aufnahme von Geflüchteten füllen dieser Tage Titelseiten von Zeitungen und Sondersitzungen von Politspitzen. Vergessen wird dabei oftmals auf das Hinterland Afghanistans. Und das erzählt eine ganz andere Geschichte.

Ihren Anfang habe die Geschichte bereits im 19. und 20. Jahrhundert genommen, als die Briten Afghanistan besetzten. Fortgesetzt wurde sie mit der Invasion der sowjetischen Armee in den 1980ern. Und das bisher letzte Kapitel der Geschichte wurde unter der ehemaligen afghanischen Regierung mit Unterstützung der USA geschrieben. Alle hätten den gleichen Fehler gemacht: Investiert worden sei in die Städte – während „die Dörfer auf der Landkarte ausradiert“ wurden, so der Afghanistan-Experte Emran Feroz auf Vox.

Auch gegenüber ORF.at sagte er: „Der Fokus liegt hauptsächlich wieder auf Kabul“, dabei dürfe man „nicht vergessen, was außerhalb der Stadt passiert. Man hat das in den letzten Jahren immer vergessen.“ Die großteils korrupten Regierungen hätten sich ebenso wenig um die ruralen Gebiete gekümmert.

Aufnahme aus dem Juli diesen Jahres zeigt einen Jungen in der afghanischen Provinz Laghman, der einen schweren Sack auf den Schultern trägt, im Hintergrund Soldaten der afghanischen Armee
Reuters/Parwiz
Übersehen werden oftmals jene Menschen, die außerhalb der Städte leben und denen es am Nötigsten fehlt

Ein Dollar: Ein Tag auf dem Land oder ein Kaffee in der Stadt

So erkläre sich etwa die Tatsache, dass trotz ausländischer Investitionen in Milliardenhöhe in Mussahi, einem kleinen Dorf 25 Kilometer südlich von Kabul, die einzige Investition eine deutsche Wasserpumpe aus den 1950er Jahren sei. Eine, die noch dazu nicht funktioniere, wie es in dem Vox-Artikel heißt. Oder dass man in Kabul für einen Caffe Latte einen Dollar zahlte, während mehr als die Hälfte der Bevölkerung einen Dollar pro Tag zum Leben hatte.

Mehr als ein Jahr nach Erscheinen dieser Analyse hat sich die Situation in Afghanistan noch einmal drastisch verschlechtert. Durch die militärischen Konflikte, die Pandemie und nicht zuletzt auch durch die Klimakrise. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt UNO-Angaben zufolge in Armut und ist auf Unterstützung angewiesen – darunter etwa zehn Millionen Kinder.

14 Millionen leiden an Hunger

Das Welternährungsprogramm (WFP) schätzt, dass rund 14 Millionen Menschen in Afghanistan nicht genug zu essen haben. „Jeder dritte Mensch“ sei von schwerem oder akutem Hunger bedroht, sagte die Leiterin des WFP in Afghanistan, Mary-Ellen McGroarty. Einer Million Kinder drohe heuer akute Unterernährung. Das bedeutet: Sie könnten ohne Hilfe sterben.

Zusätzlich zu den wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie sieht sich das Land mit der „zweiten schweren Dürre innerhalb von drei Jahren konfrontiert“, sagte McGroarty. Wegen des trockensten Winters seit 30 Jahren sei die Weizenernte um 40 Prozent zurückgegangen.

Geflüchtete Menschen bei einer Trinkquellenstation in einem Aufnahmezentrum der Ärzte ohne Grenzen
MSF/Prue Coakley
Trinkwasserbrunnen von Ärzte ohne Grenzen in Kunduz

Stark steigende Lebensmittelpreise

Die Preise für Weizen seien bereits rund ein Viertel über dem Durchschnitt der letzten fünf Jahre. Jene von Öl, Reis und Zucker sogar um mehr als 50 Prozent teurer als noch vor Beginn der Pandemie – und somit für viele unerschwinglich.

Durch den Vormarsch der Taliban hätten viele Bauern ihre Ernte nicht einbringen können, berichtete die WFP-Länderchefin. Viele seien geflohen, Obstgärten seien zerstört. Auch die Zerstörung von Brücken, Dämmen und Straßen erschwere den Zugang der Bevölkerung zu Nahrungsmitteln. „Die Situation ist katastrophal“, kommentierte McGroarty die derzeitige Lage.

Ähnlich äußerte sich kürzlich das Österreichische Rote Kreuz: „Es gibt zu wenig Nahrung und Wasser. Wir stehen vor einer Riesenherausforderung“, sagte der Generalsekretär Michael Opriesnig. Die Klimakrise verschärfe die Situation. Viele Nutztiere drohten zu verenden. Und das in einem Land, in dem 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung von Landwirtschaft und Tierhaltung leben. „Zehntausende Familien mussten ihre Dörfer deshalb bereits verlassen. Dazu kommen etwa 390.000 Vertriebene durch den Konflikt.“

Landbevölkerung fällt derzeit „durch alle Netze“

Auch was die medizinische Versorgung betreffe, sieht es für die Menschen außerhalb der Städte düster aus. Seitens der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) hieß es gegenüber ORF.at: „Gerade die Landbevölkerung fällt derzeit in Afghanistan durch alle Netze."

Und weiter: „Auch unsere Einsätze konzentrieren sich auf Ballungszentren wie Lashkar Gah oder Kunduz. Wir hören aber immer wieder von unseren Patienten und Patientinnen, wie schwierig es für sie ist, Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben.“ Viele Patienten würden von einer gefährlichen Anreise berichten, bei der sie auf dem Weg Frontlinien und Checkpoints passieren und verminte Straßen durchqueren müssten.

Archivaufnahme von Schäfern in der afghanischen Provinz Badakhshn
Reuters/Ahmad Masood
Hirten aus der Provinz Badakhshan im Nordosten des Landes (2008): Seit jeher wird die ländliche Bevölkerung übersehen

Gefährliches Hinterland

Wie gefährlich Afghanistans Hinterland sein kann, weiß auch Afghanistan-Experte Feroz. Noch bevor die Taliban die Provinzhauptstädte eingenommen haben, hätten sie sich „vor den Toren und in den Distrikten rundherum“ festgesetzt. „Egal ob in Kunduz, egal ob in Herat, egal ob in Mazar-e Sharif, in Jalalabad, ich war in vielen von diesen Städten, und da war es immer so: ‚O. k., bleib in der Stadt.‘ – ‚Wieso?‘ – ‚Da draußen sind die Taliban.‘“

Flucht vor Taliban in die Stadt

Mehr Sicherheit war es auch, was sich der in Wien lebende Adib (Name von der Redaktion geändert) für seine 22-jährige Frau erhofft hatte, als er ihr vor einigen Wochen bei der Organisation ihrer Flucht von Mazar-e Sharif nach Kabul half. Die Taliban hätten sich bereits in der Nähe ihres Wohnorts befunden – die Angst, „mitgenommen“ zu werden, sei der ausschlaggebende Grund für die Flucht gewesen, erzählte Adib ORF.at.

Schon vor der Machtergreifung der Taliban sei die Situation für Frauen auf dem Land schwierig gewesen. „Es ist ein großer Unterschied zwischen Stadt und Land. Auf dem Land sind die Afghanen strenger, die Afghaninnen sind immer ganz unten. In der Stadt dürfen Frauen arbeiten. Auch ohne Kopftuch“, so Adib.

Sicherheit gibt es für Adibs Frau aber auch in Kabul längst nicht mehr. Sie und ihre Familie seien bereits öfters am Flughafen gewesen und „haben versucht reinzukommen“ – allerdings vergeblich.

Kabul
APA/AFP/Wakil Kohsar
Vor der Machtergreifung der Taliban war das Leben in den Städten gerade für Frauen ganz anders als auf dem Land

Blick in Gebiete abseits von Kabul „lohnt sich“

Feroz betonte, dass sich viele Menschen in den ruralen Gebieten zuerst über den US-Taliban-Deal im Frühling 2020 gefreut hätten, da sie sich davon Frieden und Sicherheit erhofften. Allerdings sei es in den Dörfern dann sehr wohl auch zu Menschenrechtsverbrechen gekommen.

Will man wissen, wie sich die Situation in Kabul weiterentwickeln könnte, lohne sich daher ein „Blick in die Gebiete abseits von Kabul, die zum Teil schon länger von den Taliban kontrolliert werden“, so Feroz.