Einfamilienhäuser am Stadtrand
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Land statt Stadt

Die Pandemie und der Speckgürtel

Der Trend zum Wohnen im Stadtumland ist kein neuer. Dennoch könnte die vermehrte Möglichkeit zum Arbeiten von Zuhause und die Erfahrungen im Lockdown den Wunsch nach einem Haus im Grünen weiter verstärkt haben. Nachfrage und damit auch die Preise steigen. Und so ist der Umzug in den immer breiter werdenden Speckgürtel auch eine soziale Frage.

Seit einigen Jahren zeigt die Entwicklung der Binnenwanderung einen Trend: die Suburbanisierung, also der verstärkte Zuzug in den Speckgürtel rund um die Städte. Der Wanderungssaldo – errechnet aus der Differenz zwischen den Zu- und Wegzügen – des Pandemiejahres 2020 setzt diesen Trend fort. Für das Jahr 2021 liegen hingegen noch keine Daten vor.

So sind innerhalb Österreichs 2020 vermehrt Menschen aus der Stadt ins Stadtumland gezogen. Besonders deutlich ist diese Entwicklung etwa in Innsbruck, Linz, Wels, Graz und Wien zu erkennen.

Wanderungen innerhalb Österreichs 2020 nach politischen Bezirken

Einige Städte verzeichnen negative Wanderungssalden, während die umliegenden Bezirke mehr Zu- als Wegzüge verbuchen. Die Binnenwanderungsdaten der Landeshauptstädte 2016 zeigen im Vergleich zu 2020 eine Verstärkung des Trends.

Während 2016 noch mehr Menschen nach Wien zu- als weggezogen sind (+1.138), haben 2020 mehr Personen die Stadt verlassen, als zugezogen sind (-3.431). In Salzburg hat sich der negative Wanderungssaldo hingegen verkleinert.

Pandemie als Treiber der Stadtflucht?

Laut Bernd Gabel-Hlawa, Geschäftsführer von Findmyhome.at, hat sich die Nachfrage auf seiner Plattform nach Wohnen in Wien Umgebung von 2016 auf 2020 um 54 Prozent erhöht. Von 2019 auf 2020 lag diese Zahl bei 37 Prozent. Dabei habe sich der Speckgürtel „in der Wahrnehmung von Suchenden erweitert und in die Breite gezogen“, so Gabel-Hlawa. Das heißt, gesucht wurde auch in Gegenden, die weiter von der Stadtgrenze entfernt sind.

Allerdings ist die Suburbanisierung keineswegs ein neues Phänomen, erklärt Gunther Maier, Professor am Institute for Multi-Level Governance and Development der Wirtschaftsuniversität Wien (WU), im Gespräch mit ORF.at. Bereits in den 60er Jahren habe diese Entwicklung begonnen.

„Über zwei Jahrzehnte war Mödling der Bezirk mit der größten Zuwanderung in Österreich“, nennt Maier als Beispiel. Es sei allerdings „durchaus möglich“, dass Entwicklungen im Zusammenhang mit der Pandemie – wie etwa der deutliche Anstieg der Arbeit im Homeoffice – eine Rolle spielen.

Außenwanderung als ausgleichender Faktor

Aber die Binnenwanderungsstatistik ist nur ein Faktor der Gesamtrechnung. „Wien wächst durch Zuwanderung, insbesondere aus dem Ausland“, resümiert die Landesstatistik Wien in einer Analyse für ORF.at. Außerdem sei es wichtig, neben der Salden auch das Volumen der Gesamtbewegung zu betrachten – also separat die Zu- und Wegzüge zu bewerten. Hier liege das Pandemiejahr 2020 im mittelfristigen Trend.

So sind im vergangenen Jahr ländliche und besonders städtische Gebiete vor allem durch Zuwanderung aus dem Ausland gewachsen. Lediglich die Binnenwanderung der städtischen Regionen war negativ. Auf die Bevölkerungsentwicklung hat die Binnenwanderung daher nur bedingte Auswirkungen. Von einem Bevölkerungsschwund in der Stadt kann – auch wegen der ausgleichenden Zuwanderung von außen – freilich keine Rede sein.

Auch Werner Pracherstorfer, Leiter der Abteilung Raumordnung und Gesamtverkehrsangelegenheiten des Niederösterreichischen Landesamts, sieht zwar eine Dynamik in der Immobiliennachfrage. Etwa im Waldviertel seien vor der Pandemie Immobilienangebote weniger häufig angenommen worden als jetzt. Somit seien Auswirkungen der Pandemie auf die Wanderungsbewegungen zum einen zunächst bemerkbar.

Trotzdem betont Pracherstorfer zum anderen auch die Komplexität der Wanderungsstatistiken. So hat der Bezirk Waidhofen an der Thaya zwar einen positiven Wanderungssaldo. Dieser liegt jedoch nur bei 15. Das sei „statistisch kein großer Zuwachs“, so Pracherstorfer im Gespräch mit ORF.at.

Speckgürtel dehnt sich aus

Auch Robert Musil vom Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist eher skeptisch, ob die Pandemie die Suburbanisierung tatsächlich vorangetrieben hat. Es komme auch darauf an, ob Menschen tatsächlich ihre Wünsche realisieren oder nur online nach Immobilien suchen: „Ein Klick ist ein Klick, aber ein Zuzug ist ein Zuzug.“ Die Prognosen würden vor allem auf eine Entwicklung deuten: wachsende Stadtregionen.

Rot–Orange: urbane Zentren / Orange–Gelb: regionale Zentren / Gelb–Grün: ländlicher Raum im Umland von Zentren / Grün: ländlicher Raum

Sichtbar ist diese Entwicklung schon länger in der Urban-Rural-Typologie der Statistik Austria. Sie dient als Abgrenzung ländlicher und städtischer Gebiete und klassifiziert österreichische Gemeinden je nach Besiedlungsdichte, infrastrukturellen Einrichtungen und Pendlerverflechtungen sowie der Erreichbarkeit von Zentren. Und dabei ist etwa die Entwicklung rund um Wien signifikant: In alle Himmelsrichtungen breitet sich der urbane Raum – entlang der Ausfahrtsstraßen – aus. Besonders stark ist diese Entwicklung im Süden ausgeprägt, dort gibt es eine breite Achse bis Wiener Neustadt.

Binnenwanderung auch sozioökonomische Frage

Die zunehmende Verflechtung der Stadtgebiete mit dem Umland führen in weiterer Folge auch zu Preissteigerungen im Speckgürtel. Rudolf Giffinger, Leiter des Forschungsbereichs Stadt- und Regionalforschung an der Technischen Universität Wien (TU), sieht einen Anstieg der Nachfrage im Speckgürtel, allerdings auch große Hürden für einen tatsächlichen Eigentumserwerb.

Denn das (erwartete) Nachfrageplus treibt die Preise nach oben. „Laut einzelnen Aussagen von Immobilienhändlern sind die Finanzierungsmöglichkeiten eines Eigenheims oder Hauses sehr oft unzureichend bei deutlich gestiegenen Preisen“, so Giffinger auf Anfrage von ORF.at.

Auch Tatjana Boczy vom Institut für Soziologie an der Universität Wien sieht allenfalls eine „partielle Stadtflucht“. „Die hat aber eine soziale Schichtung“, so die Soziologin mit den Schwerpunkten Stadt- und Raumforschung auf Anfrage von ORF.at. Binnenwanderung sei auch eine einkommens- und berufsgruppenabhängige Frage: „Wer kann es sich leisten und wer kann weiterhin so flexibel arbeiten“, erklärt Boczy.

Veränderte Bevölkerungsstruktur

Peter Huber vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) sieht hinter der Abwanderung ins Stadtumland vor allem den Wunsch nach leistbarem Eigentum. Dadurch werde die Bevölkerung in den Städten nicht weniger, aber die Struktur verändere sich, so der Ökonom mit den Schwerpunkten Migration und Regionalentwicklung im Gespräch mit ORF.at.

Denn: Im Allgemeinen sind jüngere Menschen tendenziell wanderungsfreudiger – und jene, die es sich leisten können. 2020 war etwa die Gruppe der 20 bis 29-Jährigen die wanderungsfreudigste. „Hinsichtlich der demografischen Merkmale der Wanderung ist es wichtig, den Lebenszyklus zu beachten“, so Huber. Während jüngere Menschen – etwa wegen der Ausbildung oder der Arbeit – in die Stadt ziehen würden, werde in späteren Lebensphasen – etwa nach der Familiengründung – aufs Land (zurück)gewandert, so der Ökonom.

In ländlichen Gebieten sei es nach wie vor so, dass durch den Zuzug älterer Menschen die Bevölkerung trotzdem schwindet – wie zum Beispiel im Wein- und Waldviertel, sagt auch Maier. „Da sehen wir, dass vor zehn bis 20 Jahren jüngere Menschen weggezogen sind.“ Wenn diese Menschen wieder aufs Land zurückwandern, dann bekommen sie meist keine Kinder mehr, oder die Kinder wandern späterhin für die Ausbildung wiederum selbst ab. Das führe nach wie vor zu einem Bevölkerungsverlust in ländlichen Regionen.

Große Preisfrage

Welche Auswirkungen die Suburbanisierung auf die Stadtentwicklung und -planung haben wird, sei schwierig abzuschätzen, so Boczy. „Jedenfalls ist der Ausbau des öffentlichen Verkehrs eine Karte, auf die man sicher setzen kann“, so die Wissenschaftlerin. Aber auch der Ausbau von leistbarem Wohnraum in der Stadt sei wichtig, „denn in der Stadt bleiben ja jene, die es sich nicht anders leisten können – sowohl aus finanziellen als auch aus arbeits- und ausbildungstechnischen Gründen“.

Aber auch ökologische Auswirkungen sind mit der zunehmenden Suburbanisierung verbunden – unabhängig von den Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus. Besonders Bodenversiegelung sei nach wie vor ein großes Fragezeichen, so Regionalforscher Musil. Einfamilienhäuser seien neben Supermärkten die größten Flächenfresser.

Hinzu komme, dass viele Einfamilienhäuser aus den ersten Stadtabwanderungen der 60er Jahre nach und nach renoviert werden müssen. Weil das oft zu teuer ist, stelle sich also die Frage, was mit den Häusern – und den Grundstücken – passiert.