Jugendliche vor einem Plakat von der Boygroup „The Mirror“
APA/AFP/Isaac Lawrence
Mirror

Boygroup-Phänomen gibt Hongkong Hoffnung

Mirror werden als „neue Könige des Cantopops“ und „Cantopop Phänomen“ gefeiert. Mit dem rasanten Aufstieg der Boygroup ist in Hongkong eine Musikrichtung wiedererwacht. Die klassisch-harmlose Aufmache der Band mag täuschen, bieten Mirror doch moralischen Support für die Demokratiebewegung der Metropole.

„Diese Boygroup bringt die Freude, die Hongkong gerade braucht“, so erklärt die „New York Times“ („NYT“) das Phänomen; das US-Wirtschaftsportal Quartz spricht sogar von der „Stimme einer unterdrückten Stadt“. Mirror, eine Boygroup mit gleich zwölf singenden und tanzenden jungen Männern, sorgen derzeit in Hongkong für Wirbel. Gegründet wurde die Gruppe 2018 im Rahmen der Hongkonger Reality-Talenteshow „Good Night Show – King Maker“.

Richtig durch die Decke ging es für die Band, die seit 2019 immer wieder für Nummer-eins-Songs verantwortlich zeichnet, in diesem Jahr. „Wie über Nacht“ beziehungsweise „wie im Sturm“, so schreiben US-Medien, sind Mirror nun omnipräsent. Die Songs werden im Gerichtssaal, im Gefängnis und im Fernsehen gespielt.

Die Gesichter der Burschen prangen auf Plakatwänden, Bussen und – eine Werbescheu zählt offenkundig nicht zu ihren Eigenschaften – auf unterschiedlichsten Werbeflächen vom Müsli über Klimaanlagen bis hin zu probiotischen Nahrungsergänzungsmitteln. Auch große Modehäuser oder McDonald’s nutzen Mirror mittlerweile als Werbebotschafter. Musikalisch gingen in Hongkong einige der wenigen Großveranstaltungen während der Coronavirus-Pandemie auf die Kappe der Band, selbstverständlich bei ausverkauften Sälen.

Fans bei einm Interview eines Mitgliedes der Boygroup „The Mirror“
AP/Vincent Yu
Begeisterte Groupies: Hier die Fans von Keung To, einem der Mirror-Boys

Mitreißende Beats und bedeutungsoffene Lyrics

Wer als Außenstehender Mirror hört, kann ihren Erfolg auf den ersten Blick nicht zwangsläufig nachvollziehen: Die Popidole servieren mehr oder weniger bekannte Kost im typischen K-Pop-Stil. Neben mitreißenden, treibenden Beats gibt es straffe Tanzchoreografien und Texte, die oft von den klassischen Themen wie Liebe und Verwirklichung der eigenen Träume handeln und dabei eben auf Kantonesisch – der lokalen chinesischen Sprache – und nicht auf Koreanisch gesungen werden.

Warum sie dennoch den Nerv der Zeit treffen? Ein Grund ist die politische Situation in Hongkong. Nach monatelangen Massenprotesten gegen den wachsenden Einfluss Chinas im Jahr 2019 hatte die chinesische Führung im vergangenen Jahr das Sicherheitsgesetz erlassen. Das Gesetz erlaubt den Behörden ein hartes Vorgehen gegen alle Aktivitäten, die nach ihrer Auffassung die nationale Sicherheit Chinas bedrohen. Forschung, Wissenschaft, Medien, Presse und die Künste sind seitdem streng eingeschränkt.

Aufstieg parallel zu politischem Druck Chinas

Der Aufstieg von Mirror verlief parallel zum wachsenden politischen Druck, wobei die Songs der Band nicht explizit politisch lesbar sind: Sie halten sich geschickt im Vagen, sodass sie sich als Quelle der Zerstreuung ebenso eignen wie als ideologische Unterstützung der prodemokratischen Bewegung.

Als griffigstes Beispiel dafür gilt der Song „Warrior", der, im März veröffentlicht, Kantonesisch und Englisch mischt und den Aufbruch in eine neue Ära und die Chancen inmitten von Umwälzungen besingt. Er endet in einer Art „Schlachtruf“ mit den Zeilen „Niemals aufgeben, niemals aufgeben“.

„Dieser Geist des Kämpfens und des Durchhaltens trotz aller Widrigkeiten“ habe die Hongkonger offenbar sehr beeindruckt, schreibt „Variety“ über „Warrior“. Berührt über den Song zeigte sich etwa die 30-jährige Oppositionspolitikerin Gwyneth Ho, die nach ihrer Kandidatur bei einer inoffiziellen Vorwahl diesen Jänner verhaftet wurde. In einer Nachricht aus dem Gefängnis schrieb Ho, der eine lebenslange Haftstrafe droht, dass sie vor allem die (grob übersetzte) Textstelle: „Ich werde nicht sterben / Ich werde mich nicht zurückziehen“ tief getroffen habe.

Comeback des Cantopop

Abseits konkreter Textzeilen sehen manche Beobachter Mirror vor allem auch als Symbol für eine eigenständige Identität Hongkongs, die mehr und mehr unterdrückt wird. Zuletzt war es um das Genre Cantopop still geworden. Bis zur Jahrtausendwende waren die auf Kantonesisch gesungenen Songs ein wichtiger kultureller Exportartikel, der zwar als sehr kommerziell, aber auch als ausgeprägt lokal galt.

Als dann die Unterhaltungsindustrie in Südkorea, Taiwan und Festlandchina boomte, ließ das Interesse an dem Genre, das von rührseligen Balladen bis zu pulsierenden Tanzliedern reicht, aber nach. Mirror sorgen nun, wie die „NYT“ schrieb, für ein „Wiederaufleben der Begeisterung und für einen breiteren Stolz auf die Heimatstadt.“

Eigene Facebook-Gruppe mit frustrierten Ehemännern

So erklärt sich auch vielleicht, dass Mirror auch abseits von Teenagern, der vermeintlich „klassischen“ Boygroup-Zielgruppe, verehrt wird – mit teils erstaunlichen Auswüchsen: Bei der laut „NYT“ mittlerweile über 300.000 Mitglieder zählenden Facebook-Gruppe „My Wife Married Mirror and Left My Marriage In Ruins“ tauschen sich etwa frustrierte Ehemänner über Abwesenheit und Desinteresse ihrer Mirror-begeisterten Frauen aus.

Die Zeitschrift „Variety“ staunt indes über die „extravaganten Manifestationen der Fangemeinde“: Während manch Begeisterter schon eine riesige LED-Leinwand angemietet habe, um einen der Mirror-Boys zu feiern, würden andere sogar ein Kreuzfahrtschiff umdekorieren.